Der Pestengel von Freiburg
anzusehen, wie der ausgezehrte Körper, der einst so kraftvoll war, seinen letzten vergeblichen Kampf führte. Er hatte ihm Mohnsirup verabreicht. Das betäubte und nahm die Schmerzen. Manchmal lag sein Vater schon wie tot, dann wieder kehrte das Leben in ihn zurück, er wand sich in heftigen Krämpfen, und der rissige Mund spuckte Blut.
Nachdem der Pfarrer auch nach einer Stunde nicht erschienen war, hatte Benedikt erkannt, dass dieser feige Hundsfott seinen Vater ohne Beichte und Absolution, ohne Kommunion und Letzte Ölung sterben lassen würde, und so hatte er selbst begonnen, um das Seelenheil des Todgeweihten zu beten. Da endlich wich Benedikts Verzweiflung einer Ruhe, die ihn selbst überraschte. Er erinnerte sich plötzlich, wie er beim Sterben seiner Großeltern und zweier seiner Geschwister dabei gewesen war. Aber damals war er noch ein Kind gewesen und hatte nichts begriffen. Jetzt hingegen hatte er den Eindruck, dass ein Teil seiner selbst mit dem Vater starb. Und dass dieser Teil den Vater auf seiner letzten Reise begleiten würde.
Er begann mit ihm zu sprechen. «Ich liebe dich, Vater. Über alles in der Welt. Du hast mich so vieles gelehrt, warst immer für uns Kinder da. Gott wird dich bei sich aufnehmen, hab keine Angst. Ich bin bei dir, auf dem letzten Wegstück deiner Reise. Du bist nicht allein.»
In dieser Weise redete Benedikt mit gefasster Stimme auf densterbenden Vater ein und war sich sicher, dass er gehört wurde. Einmal noch musste er haltlos weinen, als er daran dachte, dass Esther im Tod niemanden aus ihrer Familie gehabt hatte, dass sie in der Fremde unter Fremden hatte sterben müssen. Da hatte der Dämon der Verzweiflung ihn erneut gepackt, und er hatte wieder zu beten begonnen.
Die Turmuhr schlug die sechste Nachmittagsstunde, als ein Beben durch den Körper des Kranken ging und sich die Brust in großer Eile hob und senkte. Benedikt drückte die Hand des Vaters, sah, wie sich dessen Augen öffneten und seinen Blick suchten. Als er sich über ihn beugte, erkannte er, dass sein Vater ihn anlächelte. Und er wusste: Das war der Abschied. Rasch nahm er das kleine Kruzifix von der Wand und legte es dem Sterbenden an die Lippen. Schon im nächsten Augenblick schleuderte ein starker Krampf den Vater zur Seite, der aufgerissene Mund röchelte und würgte und bekam doch keine Luft. Dann trat plötzlich Stille ein. Es war vorbei.
Benedikt schloss dem Toten Mund und Augen, legte ihn behutsam auf den Boden, entzündete eine Kerze, sank neben ihm auf die Knie und bat mit lauter Stimme die Nothelfer um Fürsprache bei Gott. Danach entfernte er das verschmutzte Bettzeug und ging in die Küche, um sich mit Essigwasser und verdünntem Rotwein zu waschen, wie es der Vater ihn gelehrt hatte. Als er mit einem Eimer in der Hand in die Schlafstube zurückkehrte, hatte es zu nieseln aufgehört, die Sonne schien schräg in die Kammer, geradewegs auf den leblosen Leib. Die Qual des Sterbens war ihm nicht mehr anzusehen. Trotzdem brach Benedikt in Tränen aus, denn jetzt erst wurde ihm die Endgültigkeit des Abschieds bewusst. Und sie schmerzte ihn mehr als alles andere.
Lange Zeit betrachtete er das, was von seinem Vater gebliebenwar. Schließlich gab er sich einen Ruck. Er würde nun den Toten waschen, ihm sein letztes Hemd anlegen, Räucherwerk für die Kammer besorgen und einen Boten nach der Waldhütte schicken. Er selbst wollte hierbleiben und die Totenwache halten.
Kapitel 26
V on unten hörte Clara ihren Ältesten in der Küche hantieren, hin und wieder ertönte die tiefe Stimme des Pfarrers. Bald würden sie Heinrich holen kommen.
Sie kniete auf dem Dielenboden unter dem Dachfenster und betrachtete die eingefallenen Gesichtszüge ihres Mannes, aus denen jeder Blutstropfen entwichen war. Benedikt hatte alles getan, um den Verstorbenen zu richten. Gewaschen und nach Spezereien duftend, im weißen Büßerhemd, die Arme in Gebetshaltung über der Brust gekreuzt – so lag er vor ihr auf dem Boden. Durch das offene Dachfenster hatte seine Seele entweichen können.
Doch wo war seine Seele in diesem Augenblick? Was geschah mit ihr? Sie wusste, das Leben war nur von Gott geliehen, jeder Herzschlag, jeder Atemzug ein Geschenk. Und war das Stundenglas des Lebens abgelaufen, gab man seine Seele Ihm zurück. Doch was folgte dann? Was geschah zwischen dem eigenen Tod und dem Jüngsten Tag, an dem alle Menschen, tot oder lebend, vor dem Weltenrichter Rechenschaft ablegen mussten? Hatten ihre Gebete, die
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