Der Pestengel von Freiburg
Johanna und bei den beidenJüngsten alles viel gelassener genommen und auf den Herrgott vertraut. Schließlich hatte sie Arbeit zuhauf und konnte nicht überall sein. Bei Johanna lag es womöglich daran, dass sie ein Mädchen war – viel früher als Benedikt hatte sie Verantwortung übernehmen müssen. Sie war es, die auf die Jüngsten achtgab und mit ihnen spielte, sie war es, die erst Michel, dann Kathrin das Vaterunser, das Gegrüßest seist du, Maria und das Credo lehrte und ihnen beibrachte, sich morgens und abends zu bekreuzigen. Ja, es würde ihr schwerfallen, sie in ein, zwei Jahren aus dem Haus zu lassen, wenn sie dann mit ihrem Ehegefährten einen eigenen Hausstand gründen würde. Noch schwerer indessen fiel ihr der Abschied von Benedikt. Über ihren nächtlichen Grübeleien war sie zu einer erstaunlichen Erkenntnis gelangt: Im Grunde ihres Herzens wollte sie
gar
kein Mädchen für ihn. Weder eine Esther noch eine Jacoba, noch sonst irgendwen.
Kapitel 8
B enedikt kehrte vom Mittagessen in die Schlafstube zurück und war unschlüssig, was er bis zur Vorabendmesse tun sollte. Die Wochenenden und Feiertage waren das Schlimmste. Da dehnte sich die Zeit zur Ewigkeit. Nur selten raffte er sich an solchen Tagen auf, sich zu den anderen Werkleuten in die Trinkstube zu setzen oder durch die Gassen zu ziehen. Oder gar, wie jeden zweiten Samstag, das Klingelhut-Badhaus aufzusuchen, wo es sehr viel loser zuging als in den übrigen Badstuben der Stadt. Wohl hatte es auch für ihn Zeiten gegeben, in denen er das ausgelassene Treiben dort, mit viel Wein und in Gesellschaft von jungen und nicht mehr ganz so jungen Frauen, genossen hatte. Im warmen Wasser eines Badzubers hatte er denn auch seine Unschuld verloren. Beim zweiten Mal aber schon hatte er die zudringliche, dralle Badmagd von sich gestoßen, da er mitten in ihrer Umarmung nur an Esther hatte denken könne.
So zog er sich inzwischen lieber in diese schäbige Kammer zurück, die er mit drei anderen Gesellen teilte, lag auf seinem Strohsack und starrte an die Decke. Auch heute war er als Einziger hierher zurückgekehrt. Die anderen hatten sich nach der Mittagsmahlzeit eine weitere Runde Wein kommen lassen und wollten sich dann in den Stadtgraben aufmachen – Jungfern gucken, wie sie es nannten. Denn heute war endlich mal wieder ein warmer, sonniger Tag in diesem verregneten Sommer.
Als Benedikt die schwere Holztür zur Schlafstube aufschob,stutzte er. Zu seinen Füßen lag ein zusammengefaltetes Papier mit seinem Namen, verschlossen mit blutrotem Siegellack.
Der Brief war von Esther! Dreimal hintereinander las er ihre Zeilen:
Die Figur der Synagoge ist sehr schön geworden. Können wir uns sehen? Ich bin heute Nachmittag an der Dreisam, draußen bei der Oberen Au. Esther.
Sein Herz schlug schneller vor Glück. Seitdem er von ihrer Verlobung erfahren hatte, an jenem Gewittertag vor zwei Monaten, hatte er keinen Versuch mehr unternommen, ihr zu begegnen. Er hatte die Hoffnung schon aufgegeben, überhaupt wieder von ihr zu hören.
Hastig faltete er das Papier zusammen, steckte es unter sein Kopfkissen und machte sich voller Erwartung auf den Weg hinüber zum Obertor, dem Ausfalltor in Richtung Waldgebirge. Ohne den Gruß der Torwärter zu erwidern, durcheilte er im Laufschritt den Zwinger, überquerte den Mühlgraben und stand kurz darauf an der Langen Brücke, einer breiten, gänzlich überdachten Holzbrücke, die zur Landstraße hinüber nach Schwaben führte. Der Wächter, den er aus Kindertagen kannte, winkte ihm freundlich zu, und Benedikt bog auf den sonnenbeschienenen Fußweg ab, der hier flussabwärts in Richtung Schützenrain führte. Er zwang sich, langsamer zu gehen, tief durchzuatmen, aber es fiel ihm nicht leicht, zu groß war seine Aufregung. Verwundert stellte er fest, wie viele Menschen an diesem Nachmittag unterwegs waren. Fast hatte er schon den Schießplatz der Armbrustschützen erreicht, als er Esther entdeckte. Sie saß im Schatten eines Kastanienbaums, nicht weit von ihr spielten Jossele und Eli mit Stecken an einer seichten Uferstelle.
Mit geschlossenen Augen hielt sie ihr Gesicht in den warmenWind. Wie schön sie aussah! Er schlich sich von hinten heran, beugte sich über sie und legte ihr seine Hände über die Augen. Damit hatte er sie in Kindertagen immer erschreckt. Doch Esther begann zu lächeln, ohne seine Hände wegzunehmen. Wie gerne hätte er ihr über das offene Haar gestrichen, sie umarmt und geküsst! Stattdessen setzte
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