Der Pestengel von Freiburg
sie nicht riskieren. Sie deutete auf das Säckchen. «Hilfst du mir?»
«Was ist das?»
«Erde. Erde aus dem Land Israel. Ich habe den Beutel aus Grünbaums Keller geholt – du hattest mir mal davon erzählt, weißt du noch? Deborahs letzter Wunsch war, dass ihre Asche in der Erde ihres Gelobten Landes ruht. So, wie es für ihre Toten Brauch ist. – Auch wenn von den Toten nicht mehr viel geblieben ist …», fügte sie voller Seelenschmerz hinzu.
Jetzt trat Erstaunen in Benedikts leblosen Blick. Es sah aus, als wolle er sie etwas fragen, doch stattdessen bückte er sich, nahm den Beutel unter den Arm und schritt auf einem breiten, erloschenen Balken mitten hinein in die Stätte des Todes.
«Komm!», rief er ihr zu, ohne sich umzudrehen.
Sie spürte, wie Benedikt ihr Halt gab auf diesem schweren Weg. Silbern schimmerte nun, im letzten Tageslicht, die Asche zwischen den verkohlten Balken, im Westen verfärbte sich der Himmel purpurrot.
An einer Stelle, wo mehrere Holzstücke aufeinanderlagen, hielt Benedikt inne, legte den Beutel zwischen sich und seine Mutter und öffnete die Kordel.
«Vater unser im Himmel», begann er, und Clara fiel ein in sein Gebet. Dann griffen sie nacheinander mit beiden Händen in die helle, sandige Krume. Schwungvoll schleuderte Benedikt die Erde in alle Richtungen, vorsichtig, beinaheängstlich verstreute Clara sie rings um ihren Körper. Unter ihren Schuhsohlen spürte sie die Hitze und fragte sich, welche Asche wohl zu Deborah, welche zu Aron und welche zu Moische gehören mochte. Erneut brach sie in verzweifeltes Schluchzen aus.
Als sie sich einige Zeit später auf den Rückweg machten, begegneten ihnen ein gutes Dutzend Stadtknechte und Arbeiter, mit schweren Schubkarren, Schippen und Kiepen bewehrt. Damit würden sie die sterblichen Überreste der Hingerichteten in den Fluss schaffen, bis nichts mehr von ihnen übrig war. Nur noch die verkohlte Grasnarbe der Uferwiese würde sichtbares Zeugnis dessen bleiben, was hier geschehen war.
«Begleitest du mich nach Hause?», fragte Clara. «Jossele und Eli sind bei uns. Vielleicht – vielleicht kannst ja du sie zum Sprechen bringen, wenn du hin und wieder bei uns bist. Sie mögen dich sehr.»
«Sind sie denn nicht im Kloster?»
«Nein. Man hat sie getauft, und gleich danach durften dein Vater und ich sie in der Ratskanzlei abholen.»
«Dem Herrgott sei Dank!» Seine Stimme wurde lebhafter. «Ich hatte große Angst um die beiden. Ich habe gehört, dass alle, die über vier Jahre alt …» Benedikt biss sich auf die Lippen.
«Eli ist fünf. Aber das braucht niemand zu wissen. Eine kleine Notlüge – der Bürgermeister hat mir sofort geglaubt.»
«Das hast du getan?» Benedikt hielt sie am Arm fest. «Du hast nicht vielleicht auch mit Esthers Flucht zu tun, Mutter?»
«Wie kommst du darauf?»
Sie machte sich los und strich ihm übers Haar. Sie war kurz davor, ihm zu sagen, dass Esther bei ihrem Verlobten in Straßburg war – so Gott ihr denn gnädig gewesen sein mochte. Stattdessenfügte sie nach einem Moment des Zögerns hinzu: «Ich hab gehört, dass Freunde der Grünbaums sie weit weg außer Landes gebracht haben.»
Als Clara sich jetzt, das Fastentuch mit dem Gekreuzigten vor Augen, an das Gespräch mit ihrem Sohn eine Woche zuvor erinnerte, quälte sie erneut das schlechte Gewissen. Warum nur hatte sie ihm nicht die Wahrheit gesagt? Weil sie fürchtete, er würde dem Mädchen hinterherlaufen? Weil sie wollte, dass Esther ein für alle Mal aus Benedikts Leben verschwand?
Mit traurigem Herzen machte sie sich auf den Heimweg, wo mit Jossele und Eli die nächste schwere Bürde auf sie warten würde. Die beiden Kinder hatten noch immer kein Wort gesprochen seit jenem Tag, als man ihnen die Eltern genommen hatte. Ob sie begriffen hatten, was mit ihrer Familie geschehen war, vermochte niemand zu sagen. Claras einzige Hoffnung war, dass sie noch klein genug waren, eines Tages alles zu vergessen. Zumindest würden sie mit dem Grünbaum’schen Vermögen, das in ihrem Garten vergraben war, eine sorglose Zukunft haben.
Als Clara die Eingangsdiele betrat, hörte sie nun zu ihrem Erstaunen aus der Küche Gesang. Zwischen hellen Kinderstimmen brummte eine tiefe Männerstimme, und sie erkannte das Lied vom Häschen und vom Fuchs.
Ungläubig stieß sie die Küchentür auf. Um den Tisch waren ihre sämtlichen Kinder versammelt, Jossele und Eli in ihrer Mitte, und am Kopfende stand Benedikt und schwang seinen Löffel als
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