Der Pestengel von Freiburg
Taktstock. Das Erstaunlichste war, dass die beiden Grünbaumknaben mitsangen. Und sie hatten, das war ihren verschmierten Mündern anzusehen, ordentlich beim Morgenbrei zugelangt.
Clara wartete noch, bis die letzte Strophe verklungen war, dann klatschte sie Beifall.
«Schön habt ihr gesungen.»
«Stell dir vor», strahlte Michel, «sogar der Jossele kennt jetzt jedes Wort!»
Benedikt erhob sich. «Ich geh dann mal in die Werkstatt.»
«Wart, ich bring dich zur Tür.»
Clara war froh um jeden Augenblick, den sie ihren Ältesten um sich hatte.
«Es ist schön», sagte sie, während sich Benedikt draußen in der Diele Umhang und Kapuze überzog, «dass du zum Morgenessen gekommen bist. Dein Einfall, mit ihnen zu singen, hat ja Wunder gewirkt.»
«Schon recht. Michel hat erzählt, dass die beiden gestern beim Einschlafen zum ersten Mal geredet hätten.»
«Hat er gesagt, worüber?»
Ein Anflug von einem Lächeln zeigte sich auf seinem Gesicht. «Sie haben gefragt, ob sie am Palmsonntag wohl auch mal auf dem Palmesel reiten dürften.»
An diesem Abend kam Heinrich später als sonst nach Hause. Er wirkte bedrückt. Nachdem die Kinder zu Bett gegangen waren, schenkte er sich und Clara noch einen Becher Wein ein.
«In Straßburg gibt es einen Aufruhr. Die Metzger und Kürschner und einige andere Handwerker haben sich gegen die Patrizier im Rat der Stadt erhoben und sogar gegen ihre eigenen Zunftmeister.»
Clara verstand nicht ganz, weshalb ihr Mann sich hierüber so beunruhigte.
«Aber – was haben sie für einen Grund?»
«Weil der Rat der Stadt bislang so hartnäckig am Judenschutzfestgehalten hat, deshalb. Die Aufrührer haben sogar die alten Adelsgeschlechter an ihrer Seite, weil die ihre Macht im Rat wieder zurückhaben wollen. In Wehr und Waffen sind sie mit den Handwerkern vor das Rathaus gezogen. Heute hat der Ammanmeister sein Amt aufgeben müssen, und die Aufrührer haben sich eigene Ratsherren gewählt.»
Heinrichs Hand zitterte, als er den Becher zum Mund führte. «Jetzt steht der Vernichtung der Straßburger Juden nichts mehr im Wege.»
Ihr schwindelte plötzlich, die Luft zum Atmen wurde ganz dünn.
«Clara – was ist mit dir? Du bist ja totenbleich.»
«Es ist wegen Esther – sie ist in Straßburg – ich dachte, dort wäre sie sicher.»
Es brauchte eine Weile, bis Heinrich begriff.
«Esther ist in Straßburg?»
Clara riss sich zusammen und holte tief Luft. «An jenem Abend vor der Hinrichtung, als ich bei Dunkelheit nochmals los bin, da hatte ich Esther heimlich aus dem Spital geholt. Hatte sie bei Rudolf sozusagen losgekauft und in unseren Schuppen in die Vorstadt gebracht. Von dort ist sie dann am Morgen weiter nach Straßburg. – Bitte verzeih mir, Heinrich, dass ich dir das verschwiegen habe! Aber ich musste Rudolf schwören, niemandem etwas zu sagen.»
Im Blick ihres Mannes las sie Enttäuschung und Traurigkeit.
«Hast du so wenig Vertrauen in mich?», fragte er mit tonloser Stimme. Dann straffte er die Schultern. «Wir müssen es Benedikt sagen, dass das Mädchen in Straßburg ist. Er muss sie dort wegholen. Wenn Gott will, ist es noch nicht zu spät.»
Zwei und einen halben Tag hatte es gebraucht, bis Benedikt endlich die Türme und Mauern Straßburgs vor sich aus dem Dunst auftauchen sah. Das Pferd, das er geliehen hatte, war ganz und gar erschöpft. Auf dem rechten Hinterhuf ging es lahm, und Benedikt bedauerte, es so erbarmungslos vorwärtsgetrieben zu haben. Er war kein guter Reiter, aber selbst dann hätte er es nicht eher schaffen können. Zu kurz noch waren die Tage jetzt im Hornung, und ihm stand auch nicht, wie den Reitenden Boten, ein Pferd zum Wechseln zur Verfügung.
Für die letzte Wegstrecke stieg er ab und führte das schweißnasse Tier hinter sich her. Zu jedem anderen Zeitpunkt hätte er sich gefreut, die mächtige freie Reichsstadt wiederzusehen, ihre herrliche, Münster genannte Kirche und die ihm noch aus seiner Gesellenzeit bekannten Gesichter auf der Hütte.
Doch für dieses Mal war alles anders. Er starrte auf die Umrisse der Stadt, während seine Schritte langsamer wurden, und plötzlich traf ihn die Gewissheit schmerzhaft wie ein Peitschenhieb: Er war zu spät gekommen! Seine Nase witterte denselben abscheulichen Geruch wie zwei Wochen zuvor in Freiburg, und was dort über den Hausdächern und Türmen hing, war kein Dunst, sondern zerstobener Rauch!
Die Zügel glitten ihm aus der Hand. Das Pferd sprang erschrocken zur Seite, als er
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