Der Pestengel von Freiburg
wenige Schritte hinüber zum Armenspital.
«Ich komme mit dir», bot Clara an.
Vergebens klopften sie kurz darauf gegen die Tür des schäbigen Holzhäuschens, die von innen verriegelt war.
«Da stimmt was nicht», murmelte Heinrich, bevor er sein ganzes Gewicht gegen das morsche Holz rammte. Der Riegel sprang ab, und er stolperte ins Innere.
«Gutlieb? Bist du da?»
Niemand antwortete. Sie betraten das halbdunkle, einzige Zimmer des Erdgeschosses.
«Bah, was für ein Gestank.» Clara öffnete die Fensterläden. Der Raum, in dessen hinterer Ecke ein fleckiger Vorhang die Schlafstätte abtrennte, wirkte, als sei er schon lange Zeit verwaist. Das wenige Kochgeschirr beim Herd stand ordentlich gestapelt auf einem Wandbrett, auf dem Tisch fand sich kein Krümchen, der Dielenboden war sauber gefegt.
«So ärmlich hat der gute Mann gewiss sein Lebtag nicht gehaust», sagte Benedikt, während er sich umsah.
«Vielleicht ist er auf Reisen?»
«Da wird er wohl kaum die Tür von innen verriegeln können.» Er trat auf den Vorhang zu und zog ihn beiseite. Auch im Bett war niemand, die Decke lag zusammengefaltet auf dem Kissen.
Da stutzte Clara. Neben der Bettlade, vor der Leiter zum Dachboden, lagen zerbrochene, dunkle Holzstücke. Sie bückte sich. Es war ein in drei Teile geborstenes Kruzifix. Unwillkürlich bekreuzigte Clara sich: Das hier war nicht von allein in Stücke gegangen. Jemand musste es in großer Wut zerschmettert haben. Oder in Verzweiflung.
Zugleich wurde sie gewahr, woher der strenge Geruch kam: von oben, durch die geöffnete Luke.
Auch Heinrich hatte es bemerkt.
«Bleib du hier unten», befahl er und kletterte mit zusammengekniffenen Lippen die Sprossen hinauf. Sie hörte über sich seine Schritte hin und her gehen. Ein Paternoster lang blieb alles still, bis Heinrichs bleiches Gesicht wieder in der Öffnung erschien.
«Er hat sich am Dachbalken aufgehängt. Jetzt ist auch der Letzte tot.»
Clara starrte ihn mit offenem Mund an. Dann sagte sie leise: «Das ist nicht wahr. Jossele und Eli leben. Und sie sollen ein gutes Leben haben.»
Mit verbissener Miene schlug Benedikt die Nut in seinen Stein. Er stand neben Daniel in der Sonne, ohne die Wärme zu spüren.
«Stimmt es», hörte er ihn sagen, «dass deine Eltern den jüdischen Arzt gefunden haben? Der, der sich aufgehängt hat?»
Benedikt zuckte die Schultern. «Kann sein. Ich war schon länger nicht mehr bei ihnen.»
«Die armen Juden. Überall werden ihre alten Gemeinden vernichtet, dabei waren sie doch immer Teil unserer Städte. Die größten in Worms und Speyer sind schon ausgelöscht, es heißt, dass sich dort vierhundert Juden selbst verbrannt haben, nachdem der Rat ihren Feuertod beschlossen hatte. In Frankfurt und Mainz wehren sie sich noch mit Waffengewalt. Aber es wird ihnen nichts nutzen.» Daniel geriet in Rage. «Was ist das nur für eine Schande! Hernach gibt’s dann vom König einen Amnestiebrief, der die Städte von jeglicher Schuld am Judenauflauf freispricht.»
Der Geselle legte Klöpfel und Eisen beiseite.
«Weißt du, was ich oft denke? Da ist die Seuche noch nicht mal bei uns angekommen, und schon hat sie Tausende von Opfern gefordert. Oder anders gesagt: Die Juden werden hingerichtet, und die Pest kommt trotzdem. So wie drüben in Villach oder Bern oder Genf, mit all diesen seltsamen Todesfällen.»
Benedikt schwieg ungerührt. Nur bei dem Namen Speyer war er zusammengezuckt. Dort besuchte Esthers jüngerer Bruder Jochai die Talmudschule – hatte besucht, denn auch er war nun mit Sicherheit tot.
«Aber das scheint niemanden mehr zu kümmern.» Daniel konnte sich kaum mehr beruhigen. «Dass das große Sterben näher rückt, meine ich. Erst ein großes Geschrei, das Weltende sei nahe, und jetzt wird um das Erbe der Hebräer gestritten, als hinge davon das eigene Überleben ab.»
Plötzlich stellte er sich neben Benedikt und legte ihm die Hand auf die Schulter.
«Darf ich dich was fragen?», er sah ihn aufmerksam an. «Seit Wochen redest du kaum ein Wort und bist nicht mehr mit dem Herzen bei der Arbeit.»
Benedikt hätte ihm am liebsten gesagt, dass sein Herz tot sei. Doch ihm war jedes Wort zu viel.
«Die Grünbaumtochter», fuhr Daniel fort, «die Esther – du hast sie sehr gemocht, nicht wahr? Du hast sie geliebt.»
Als Benedikt stumm blieb, zog der Altgeselle ihn in die Arme. Da auf einmal vermochte Benedikt zu weinen, zum ersten Mal seit dem großen Brennen. Er gab keinen Laut von sich, aber die
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