Der Pestengel von Freiburg
Rädelsführer Snewlin und Mattmann. Als Heinrich ihr heute Morgen berichtet hatte, dass die beiden auf zehn Jahre der Stadt verwiesen werden sollten, mochte Clara das kaum glauben. Gab es also doch so etwas wie irdische Gerechtigkeit?
Ein klein wenig hatte das ihre Verzweiflung der letzten Wochen gemindert. Jenen Augenblick, als Benedikt im strömenden Regen aus Straßburg zurückgekehrt war, würde sie nie vergessen. Kurz nach der Abendmahlzeit war er bei ihnen aufgetaucht, hatte nass bis auf die Haut im Türrahmen zur Küche gestanden, mit eingefallenen Wangen über dem unrasierten Gesicht, die Augen gerötet und glasig. Sie hatte die Kinder rasch zu Bett geschickt, und dann hatte Benedikt einen einzigen Satz zu ihr gesagt, bevor er wieder verschwunden war: «Dein Sohn will ich nicht mehr sein.»
Darüber war sie am Küchentisch zusammengebrochen. Sie hatte ihren Ältesten auf immer verloren. Und es geschah ihr nur recht. Schließlich hatte sie ein zweites Mal, aus reinem Eigennutz, verhindert, dass Benedikt rechtzeitig zur Stelle gewesenwäre, um Esther zu retten. Diese Schuld würde sie nie wiedergutmachen können.
«Was hältst du Maulaffen feil?», schnauzte in diesem Augenblick die Würzkrämerin sie an. «Du bist an der Reihe.»
Clara schüttelte den Alb von sich und drückte Kathrin und Jossele einen Kuss auf die Stirn.
«Habt viel Spaß beim Reiten. Und haltet euch schön fest, ihr beiden.»
Claras Hoffnung, der Lauf der Zeit und die Pflichten des Alltags würden ihrer Seele allmählich den Frieden zurückbringen, erwies sich als Trugschluss. Als die Tage länger und wärmer wurden, beruhigten sich zwar die Gemüter der Freiburger Bürger, und das Leben in der Stadt nahm wieder seinen gewohnten Gang. Doch für Clara war all das kein Trost.
Am Tage nach dem Osterfest hatte man tatsächlich den Schuhmacher Henni Mattmann und den Ritter Johann Snewlin auf zehn Meilen vor die Stadt verbracht, mit all ihrer Fahrnis. Zum neuen Schultheißen wurde sein Vetter Hanmann Snewlin berufen. Zugleich begann der Rat, die Häuser der Juden neu zu besetzen: Die Synagoge diente nun als Stapelhaus für Kaufmannswaren, der Friedhof vor der Stadt, ungeachtet des heiligen Gebots der Totenruhe, als städtischer Werkhof, wobei die Grabsteine sogleich Verwendung beim Ausbessern der Stadtmauern fanden. Die Wohnhäuser selbst wurden von den Freiburger Handelsleuten als Lager und Kontore genutzt, die einzelnen Stuben und Kammern unterm Dach an ledige Frauen oder Taglöhner vermietet.
Zum ersten Mal, seitdem sie im Haus Zum Schermesser lebte, bestellte Clara ihren Garten nicht mehr. Zunächst fiel das niemandem auf, nicht mal ihr selbst, bis schließlich Johannaihr im vorwurfsvollen Tonfall sagte, dass kein einziges Kräutlein mehr im Beet stehe und alles von Nesseln und Unkraut überwuchert sei.
«Dann kümmer du dich doch darum. Ich hab keine Zeit hierfür.»
Das war gelogen. Früher hatte sie noch jedes Mal die Zeit gefunden, sich um ihre geliebten Blumenrabatten und Saatbeete zu kümmern. Der Grund war ein anderer: Es zerriss ihr das Herz, wenn sie von nebenan das Gekeife aus den Frauenzimmern hörte oder die Gespräche der Kaufleute, die durch die geöffneten Fenster der Kontore herausdrangen. Sie vermisste das Lachen der Grünbaumkinder, wenn sie im Garten gespielt hatten, die Gebete in diesem fremdartigen Singsang, die traurig-schöne Musik, die an Festtagen erklungen war. Nie wieder würde all das zu hören sein.
In der Kreuzwoche vor Christi Himmelfahrt dann wurde Heinrich mitten aus der Prozession geholt und in das Häuschen neben dem Armenspital gerufen, das Schlomo Gutlieb seit seiner Taufe bewohnte. Man habe es dort eine ganze Nacht lang rumpeln hören, berichteten dessen Nachbarn, auch jammern und heulen, und seither sei eine unheimliche Stille eingekehrt. Vielleicht sei der einstige Jud schwerkrank, zumal er sich auch nicht bei den Gottesdiensten dieser Tage habe sehen lassen. Heinrich möge doch nach dem Rechten sehen, wo er mit den Juden so gut bekannt gewesen sei.
Dabei hatten Clara und Heinrich den jungen Arzt seit dem großen Brennen nie wiedergesehen. Sie wussten nur, dass er unentgeltlich die Siechen im Armenspital behandeln sowie die Aussätzigen für das Gutleuthaus beschauen musste, gegen die jährliche Zuteilung einer kümmerlichen Menge an Korn und Wein.
Der Prozessionszug, der hinaus nach Zähringen gehen sollte, hatte die nördliche Vorstadt bereits halb durchquert. Von hier waren es nur
Weitere Kostenlose Bücher