Der Pestengel von Freiburg
uns die Ratsherren weismachen wollen.»
«Nie und nimmer!», bekräftigte Thine, die alte Klatschbase von Oberlinden, mit schriller Stimme. «Warum sonst hättest heut deine Familie aus der Stadt geschafft? Weil du nämlich weißt, was die Glocke geschlagen hat. Und wir andern sollen hier verrecken!»
Benedikt ahnte, wie sein Vater mit sich kämpfte, während die Männer und Frauen ihnen bedrohlich eng auf den Leib rückten. Sie rochen nach Schweiß – nach Angstschweiß, schoss es Benedikt durch den Kopf.
Heinrich Grathwohl holte tief Luft.
«Gott allein kennt die Wahrheit. Aber ich rate euch allen: Haltet Abstand von jeglichen Kranken und bewahrt Ruhe. Holt stattdessen mich oder einen anderen Wundarzt ins Haus. Es könnte die Seuche sein, das will ich nicht verleugnen.»
Kapitel 20
B ehaimer bedauerte zutiefst, dass er zu Johanni nicht wieder in den Rat gewählt worden war. So hatte man ihn heute lediglich als Stadtarzt und Zeugen vorgeladen, zusammen mit Heinrich Grathwohl und Heinrich Arbogast, den beiden geschworenen Wundärzten. Alle drei traten sie sich in der Diele vor der Ratsstube die Beine in den Bauch und warteten ab, welche Schlüsse die Ratsherren aus ihren Aussagen zu den gegenwärtigen Krankheits- und Todesfällen ziehen würden.
Auch wenn Behaimer dieses Stehen vor verschlossener Tür als reichlich entwürdigend empfand: Er war sich sicher, dass auch ohne ihn die richtige Entscheidung getroffen würde. Jedem dort drinnen war schließlich klar, wer Schuld an dem neuerlichen Aufruhr hatte, der zwei Tage zuvor drunten im Stadtgraben, beim Tanz ums Johannisfeuer, seinen Ausgang genommen hatte.
Fast musste Behaimer grinsen, als er daran zurückdachte. Die Ratsherren waren eben dabei gewesen, unter den Klängen der Musikanten auf ihren Bänken Platz zu nehmen, als das Volk auch schon zu maulen und zu grölen begonnen hatte. Lügenbeutel und Erzlumpen hatte man sie gescholten und lautstark gefordert, die Karten offenzulegen. Jeder in der Stadt wisse längst, dass die Seuche von Basel her über ihre Stadt gekommen sei.
Die ersten Männer und Frauen hatten bereits das mit Girlanden geschmückte Ehrenpodest gestürmt, während Bürgermeisterund Schultheiß vergeblich versuchten, die aufgebrachten Gemüter zu beruhigen. Schließlich hatte man ihn, Behaimer, heraufgeholt, und mit seiner durchaus kräftigen Stimme war es ihm gelungen, sich in dem Tumult Gehör zu verschaffen. Nein, es drohe ganz und gar keine Seuchengefahr, hatte er der Menge entgegengebrüllt. Nur um ganz vereinzelte Fälle handle es sich, die möglicherweise und eventualiter auf Pestilenz hinweisen könnten. Umso mehr seien nun Ruhe und Besonnenheit als erste Bürgerpflicht gefordert.
Geschosse aus Rossbollen und rohen Eiern hatten ihn am Weiterreden gehindert, einige Burschen hatten begonnen, brennende Prügel aus dem Feuer zu ziehen und den Bretterboden anzuzünden, der sogleich wie Zunder brannte. Eilig waren die Ratsherren nach allen Seiten vom Podest gehüpft und unter bösen Flüchen aus dem Stadtgraben geflohen. Er selbst hatte sich in eine Nische der Stadtmauer gedrückt und mit sozusagen wissenschaftlicher Neugier die Unbotmäßigkeiten des Pöbels beobachtet. Es fesselte ihn jedes Mal aufs Neue, welch aufrührerisches und gesetzloses Ungestüm doch im gemeinen Manne steckte.
Dieweil die Stadtknechte sich daranmachten, Podest wie Johannisfeuer zu löschen und das Tanzfest für beendet zu erklären, streckten ihnen nicht wenige der aufgebrachten Männer und Frauen den nackten Arsch entgegen oder brunzten ungeniert gegen den qualmenden Bretterboden. Erst die herbeigeeilte Scharwache mit ihren Spießen vermochte ganze Arbeit zu leisten. Sie nahm sämtliche Rädelsführer und Brandstifter fest, darunter auch – wie sollte es anders sein? – Meinwart Tucher. Dem Rotzbengel gehörte endlich einmal gehörig eins über die Mütze, hatte Behaimer noch bei sich gedacht, bevor er den Schauplatz gemessenen Schrittes verlassen hatte.
Indessen war der Krawall hiermit noch nicht beendet gewesen. Nachdem die Gefangenen in den Christoffelsturm verbracht worden waren, zog die restliche Meute vom Stadtgraben zum Rindermarkt, nicht ohne sich vorher einen gehörigen Rausch anzusaufen. Die halbe Nacht war der Radau unter dem Tor weitergegangen, mit Rätschen, Fastnachtströten und Topfdeckeln zu einem Höllenlärm gesteigert, sodass noch vor Morgengrauen die Gefangenen ihre Freiheit zurückhatten.
Auch heute war, unter den Fenstern der
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