Der Pestengel von Freiburg
Doch Benedikt war nicht entgangen, wie angespannt er war und dass seine Hände beim Essen gezittert hatten.
Als er jetzt, einige Stunden später, mit seinem Vater auf dem Heimweg war, jeder in seine Gedanken versunken, gab sich Benedikt einen Ruck.
«Es ist doch die Pestilenz, nicht wahr?»
Sein Vater blieb stehen. Er nickte.
«Heute ist die Küchenmagd des Bürgermeisters gestorben. Ein ganz junges Ding. Sie hatte stinkende Beulen am Körper.»
«Hast du sie gesehen?»
«Wo denkst du hin? Man holt mich ja nicht mehr. Hinterverschlossenen Türen ist sie gestorben. Aber ich stand bei der Frühmesse hinter dem Bürgermeister, und er hat ein wenig zu laut mit seinem Nachbarn gesprochen. – Hör zu, Benedikt. Noch kannst du zurück zu den anderen. Ich weiß nicht, was uns in der Stadt erwartet, aber ich fürchte, meine schlimmsten Ahnungen werden sich erfüllen. Ich rate dir: Geh zurück.»
«Nein», entgegnete Benedikt knapp.
«Ist es wegen deiner Mutter? Glaubst du noch immer, sie sei schuld an Esthers Schicksal?»
Benedikt schwieg. Das Gesicht seines Vaters verfärbte sich, und die Adern an seinen Schläfen schwollen an.
«Was glaubst du eigentlich, wer du bist?», donnerte er los. «Der Weltenrichter? Der über Gut und Böse befinden kann? Gar nichts weißt du! Wie ein dummes, bockiges Kleinkind benimmst du dich. Du siehst weder, wie rührend sich deine Schwester um die Grünbaumknaben kümmert, noch, was deine Mutter auf sich nimmt um der Familie willen.» Schweiß trat auf seine Stirn. «Diese Liebschaft zwischen dir und Esther war von vornherein zum Scheitern verurteilt. So etwas ist in unserer Welt nicht vorgesehen, begreifst du das nicht? Das sehe ich genauso wie deine Mutter. Mit welchem Recht quälst du sie so? Nicht nur, dass sie Eli vor dem Feuertod gerettet hat – sie war es auch, die Esther zur Flucht aus dem Gefängnis verholfen hat. Sie war es, die dein Mädchen heimlich vor die Stadt gebracht hat, damit es sich nach Straßburg retten kann. Was danach geschehen ist, war Gottes Wille und nicht ihre Schuld.»
«Das ist nicht wahr, was du da erzählst. Du lügst.»
Da holte sein Vater aus und gab ihm eine schallende Ohrfeige.
«Komm endlich von deinem hohen Ross herunter», fauchte er, und seine Stimme bebte nicht minder als seine Hand. «Vergräbstdich in deiner schönen Baukunst, frönst der Anmut deiner steinernen Blattwerkornamente und Maßwerkfenster, verkünstelst dich mit magischen Formeln und Goldenem Schnitt. Wärst nur hin und wieder mitgekommen in die Krankenstuben, so wie deine Mutter es niemals gescheut hat! Dann hättest du ein wenig mehr vom Leben gesehen und wüsstest, wie elend es anzusehen ist, wenn der Körper mit eitrigen Schwären und blutigen Wunden überzogen ist und kein Arzt der Welt mehr helfen kann. Wenn ein Kind vor den Augen der verzweifelten Eltern qualvoll stirbt, wenn im Wochenbett eine …»
«Hör auf!» Benedikt presste sich die Hände gegen die Ohren. Sein Vater wandte sich um und ging mit wankenden Schritten weiter. Den Rest des Weges trottete Benedikt schweigend hinter ihm her. Immer wieder kämpfte er gegen die Tränen an.
Als sie die Stadtmauer erreichten, verfärbte sich der Himmel im Westen bereits rot. Um nicht wieder den Torhütern begegnen zu müssen, nahmen sie eine der unbewachten Schlupfpforten, durch die die Bürger zu ihren Gärten und Viehtränken gelangten. Die Gassen lagen jetzt friedlich und still, die meisten Bewohner saßen wohl bei ihrem sonntäglichen Nachtmahl oder in einer der zahlreichen Schenken und Trinkstuben.
Als sie in der Webergasse ankamen, hatte sich zu ihrer Verblüffung eine Menschenmenge vor ihrem Haus zusammengerottet.
Der Vater blieb stehen. «Das heißt nichts Gutes.»
«Da kommen sie», rief der Erste, und Benedikt erkannte in ihm Cunrat Heinerli, den Stadtschreiber. Neben ihm stand der Bärenwirt, der sich jetzt aus der Menge löste und auf sie zueilte.
«Sag uns die Wahrheit, Grathwohl!» Hanmann Biengerpackte den Vater bei den Schultern. «Sag du uns wenigstens die Wahrheit! Woran ist mein Weib gestorben?»
Heinrich Grathwohl schob ihn zur Seite.
«Lasst uns ins Haus. Wir sind müde.»
Doch die Menschen schoben sich wie eine Schutzwehr vor ihre Hofeinfahrt.
«Nichts da.» Es war Badermeister Ebnoter, ein entfernter Vetter seines Vaters, der jetzt das Wort ergriff. «Mich kannst du nicht für dumm verkaufen. Schließlich kenn ich mich aus in der Wundarzney. Nie und nimmer ist das ein Sommerkatarrh, wie
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