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Der Pestengel von Freiburg

Der Pestengel von Freiburg

Titel: Der Pestengel von Freiburg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Astrid Fritz
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anderen Jungen ihres Alters beschnitten waren, war ihnen längst aufgefallen. Wie aber nahmen sie es auf, dass die Leute in ihrer Gegenwart ungehemmt irgendwelche unsinnigen oder auch boshaften Bemerkungen machten? Schlimm genug, dass ihnen trotz der christlichen Taufe der amtliche Beiname «Jud» verpasst worden war.
    Ihre Kinder waren für Jossele und Eli zu Geschwistern geworden, denen sie vertrauten, mit denen sie spielten, stritten und rauften, wie es eben so üblich war. Sie selbst und Heinrich hingegen ernteten nur selten ein Lächeln von den beiden, und vor allen übrigen Erwachsenen fürchteten sie sich.
    Auch jetzt drückten sie sich schutzsuchend an Benedikts Seite, während Michel mit dem Hund am Strick vorausstürmte. Er war der Einzige, der ihren Umzug in den Wald als ein großes Abenteuer zu genießen schien.
    Sie ließen die letzten Häuser der Oberen Au rechter Hand liegen, überquerten den Mühlbach und nahmen den schmalen Pfad talaufwärts, immer den Floßgraben längs. An Wochentagen schossen hier die Baumstämme aus dem Waldgebirge vonStellfalle zu Stellfalle, vorwärtsgeschleudert von einem mächtigen Schwall Wasser. Jetzt waren die Stauwehre geschlossen, und auf dem ruhigen, flachen Wasser tummelten sich Myriaden von winzigen Mücken in der Morgensonne. Wie friedlich und ruhig es hier draußen war! Außer ihnen war keine Menschenseele unterwegs. Und besser konnten sie es auch nicht treffen, dachte Clara, denn es brauchte niemand zu wissen, wohin sie unterwegs waren.
    Eine halbe Wegstunde später, bei den Mönchszellen der Kartäuser, verließen sie das Dreisamtal auf einem schmalen, steilen Weg hinauf in den Ottilienwald. Hier im Schatten war es angenehm kühl, dafür schien ihre Handkarre auf dem holprigen Untergrund dreimal so schwer zu werden.
    «Erzähl uns von der heiligen Odilia und ihrem bösen Vater», bat Michel seine Mutter.
    «Nur, wenn du Johanna beim Schieben hilfst.» Clara trat neben Benedikt an die Deichsel und begann:
    «Vor uralten Zeiten wurde einem Herzog drüben im Elsass eine Tochter namens Odilia geboren. Sie kam blind zur Welt, und ihr Vater, ein gewalttätiger Mann, wollte sie töten lassen. Ihre Mutter aber konnte sie retten und ließ sie weit weg in ein Kloster bringen. Dort schenkte ihr ein Engel das Augenlicht zurück. Nach zwei Jahren ließ sie ihr Bruder, der sie sehr liebte, wieder nach Hause holen. Darüber geriet der Vater in solchen Zorn, dass er den eigenen Sohn totschlug.»
    Sie hielt inne, um zu verschnaufen.
    «Odilia nun erweckte den Bruder wieder zum Leben und musste deswegen abermals vor dem Vater fliehen. Der verfolgte sie mit seinen Mannen bis hierher, in diesen Wald. Als er sie schon beinahe erreicht hatte, da tat sich nicht weit von hier wie durch Zauberhand ein Felsspalt auf, in dem sie sich versteckenkonnte. Die herabstürzenden Steine verwundeten den Vater schwer, sodass seine Männer ihn forttragen mussten. Als sich Odilia wieder ins Freie wagte, entsprang dem Felsen eine heilende Quelle. Seither verspricht ein Besuch dieses Brünnleins uns Menschen Linderung bei allen Augenleiden.»
    «Ist der böse Vater dann zur Strafe gestorben?», fragte Eli. Er hatte aufmerksam zugehört und war dabei immer dichter an sie herangetreten, bis seine kleine Hand in ihre geschlüpft war. Claras Herz schlug schneller vor Freude.
    «Nein, aber er hatte die Verfolgung aufgegeben und war auf seine Burg ins Elsass zurückgekehrt. Viele Jahre später wurde er sterbenskrank und wollte mit Odilia Frieden schließen. Da sie ein gutes Herz hatte, besuchte sie ihn, und er schenkte ihr zur Versöhnung eine Burg auf einem himmelhohen Berg. Darin gründete sie ein Frauenkloster, holte ihre alten Eltern dorthin und pflegte sie bis zu deren Tod. Heute ist die heilige Odilia die Schutzpatronin der Menschen im Elsass, und um unsere Quelle hat man eine kleine Kapelle gebaut.»
    «Mit so einem bösen Vater hätt ich nie im Leben Frieden geschlossen», sagte Michel wie jedes Mal am Ende dieser Geschichte.
    «Das ist auch der Unterschied zwischen dir und einer Heiligen», spottete Johanna.
    «Darf ich die Quelle sehen?», fragte Eli.
    «Später», beschied Clara und dachte daran, ob ihr Ältester jemals Frieden mit ihr schließen würde. Dabei wünschte sie sich nichts sehnlicher.
    Mittlerweile hatten sie nach einem letzten steilen Anstieg ihr Ziel erreicht: eine flache Lichtung, an deren Rand, im Schutze mächtiger Tannen, ihr Schuppen stand. Eigentlich war es mehr als ein

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