Der Peststurm
um ihn in die elterliche Schlafkammer zu ziehen. Egal, wie es Lea auch anstellte; das 10-jährige Mädchen war einfach zu schwach, um diese Aufgabe allein bewältigen zu können. Als sie irgendwann begriff, dass es ihr beim besten Willen nicht gelingen würde, holte sie einen Strohsack und legte ihn unter Papas Haupt. Lea war verzweifelt und wusste sich nicht anders zu helfen.
Sie wusste ja nicht einmal, ob ihr Vater überhaupt noch lebte. Er selbst hatte es ihr doch beigebracht, wie man prüfte, ob ein Mensch noch am Leben war. Aber es fiel ihr nicht ein. Sie war völlig verstört und nahm nicht wirklich wahr, was um sie herum vorging. Nein, es fiel ihr beim besten Willen nicht ein.
Sie hörte jetzt nur noch das ohrenbetäubende Geschrei und die unglaublich schmerzenden Worte, die von draußen hereindrangen: »Scheißjuden! Her mit den Hennen, oder wir fackeln euch ab!«
»Ja! Und raus mit den Eiern!«
Obwohl sie das Krachen der Steine an der Hauswand schier verrückt werden und immer wieder zusammenzucken ließ, konnte ihr jetzt niemand einen Rat geben. Keiner sagte ihr, was sie tun sollte.
»Papa, sag doch etwas! Papa! … Papa?«
Aber ihr Vater rührte sich nicht. Das, was 34 Jahre lang pulsierend durch seinen Körper gelaufen war, rann ihm nunmehr unaufhaltsam den Kopf hinunter und färbte sein Hemd von oben bis unten rot. Ein grässlicher Anblick für ein wohlbehütetes junges Mädchen, das noch nie direkt mit solchen Dingen konfrontiert worden war.
»Mama«, wimmerte Lea – nachdem ihr Vater nicht antwortete – ständig leise vor sich hin. Aber ihre Mutter konnte ihr augenblicklich nicht helfen, sie war zum ersten Mal nicht da, wo Lea sie doch so nötig brauchte.
Während ihr die Tränen in Strömen herunterliefen, irrte sie immer wieder planlos durch das Haus, als wäre sie noch nie hier gewesen. Sie wollte irgendetwas tun und sie suchte irgendetwas. Aber was? Sie wollte nur alles tun, um ihrem geliebten Vater zu helfen – aber wie?
*
Von draußen drangen immer noch die grässlichen Schreie herein, und es hatte den Anschein, als wenn sie immer lauter würden. Der ›Pater‹ hörte wiederholt den Spruch, dass einer seiner Mitstreiter das Haus der Bombergs, das ja bald sein Haus werden sollte, in Brand setzen wollte. Mit zusammengekniffenen Augen und gespitzten Ohren versuchte er, denjenigen, der immer wieder von »abfackeln, anzünden und ausräuchern« sprach, zu orten.
Bald hatte er ihn entdeckt. Endlich bekam er mit, von wem dieser närrische Gedanke stammte.
Der ›Pater‹ zwängte sich durch die aufgebrachte Menschenmenge hindurch bis hin zu dem dummen Schreihals. »Wenn du diese alte Hütte anzündest, verbrennen auch die Hühner. Also lass den Scheiß!«
Als er zur Antwort bekam, er solle sein Maul halten, kapierte der ›Pater‹ langsam, dass er jetzt niemanden mehr bremsen konnte. Genauso mühsam, wie es gewesen war, die Leute gegen die Juden aufzuhetzen, genauso schwierig würde es mit Sicherheit werden, zurückzurudern und den aufgebrachten Mob so weit zu besänftigen, dass er nur die Juden vertrieb, das Haus aber unbeschädigt ließ. »Mist! Was tu ich nur?«
Die Belagerer schaukelten sich gegenseitig so hoch, dass sie endlich zu allem fähig waren. Da die Hühner der Bombergs längst zum Reizthema geworden waren, drängten die Leute allesamt nach vorn, um bei den Ersten zu sein, wenn der Stall endlich geplündert werden konnte.
»Wer weiß, was da sonst noch alles zu holen ist«, rief Josen Bueb mit einem gefährlich gierigen Glanz in den Augen.
»Ja«, schrie ein anderer. »Alle Juden haben Geld, das ihnen nicht gehört!«
Und wieder krachten Steine gegen die Hauswand, an die Tür und auf die verschlossenen Fensterläden, von denen jetzt einer zerbarst. Während Lea einen Riesenschrecken bekam, war es selbst dem ›Pater‹ längst schon unheimlich geworden. Er hatte eigentlich nur im Sinn gehabt, die verhassten Juden zu vertreiben, aber nicht, sie umzubringen. Andererseits: Was soll’s. Hauptsache, das Haus bleibt heil, dachte er, während er sich wieder in die letzte Reihe zurückzog, um den unaufhaltsamen Fortgang der Dinge aus sicherem Abstand zu verfolgen.
*
»Die Hühner«, hauchte Jakob Bomberg mit flacher Stimme.
»Was?« Es dauerte eine Zeit lang, bis Lea klar wurde, dass ihr Vater nicht tot war, sondern nur besinnungslos gewesen war. Sie kniete sich neben ihn auf den Boden und streichelte sanft seine Wange. Dass nach wie vor das Blut so stark
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