Der Peststurm
der Kastellan ungläubig.
»Nein«, bekam er zur Antwort. Jodok blickte angestrengt zum Himmel empor. »Wir dürften erst die Hälfte der siebenten Stunde überschritten haben.«
Ulrich Dreyling von Wagrain blickte jetzt ebenfalls nach oben und bestätigte dies durch ein stilles Kopfnicken.
»Dann sind sie bei einer Lesung oder bei einem Vortrag im Kapitelsaal.«
Der Kastellan wunderte sich zwar über Jodoks Kenntnis der hiesigen Gepflogenheiten, aber schon längst nicht mehr über dessen Sachkenntnis. Der Hüne drückte einen Daumen an den linken Nasenflügel und schnäuzte sich, bevor er sich nach allen Seiten umsah. »Warte! Ich werde den Pförtner auf uns aufmerksam machen.« Während er dies sagte, hob er einen Stein auf, um einen großen Schlüssel darunter hervorzuzaubern.
Der Kastellan schüttelte verwirrt den Kopf und wollte Jodok wieder etwas fragen, bekam aber nur ein »Psst!« mit einem an den Mund gelegten Zeigefinger zurück. Jodok sperrte zwar leise, aber so selbstverständlich, als wenn er hier zu Hause wäre, die äußere Klosterpforte auf und wisperte seinem verunsicherten Begleiter zu: »Komm! Wir brechen jetzt hier ein.«
Der grundehrliche Staufner wollte protestieren, hatte aber keine Möglichkeit dazu, weil ihn Jodok am Ärmel packte und mit hineinzog.
*
Von links erhellte das dürftige Mondlicht, das in einen danebenliegenden Raum schien, über ein Seitenfenster den Vorraum, in dem sie sich jetzt befanden. Jodok deutete seinem Gefährten nochmals mit einem Zeigefinger am Mund, leise zu sein, und mit der anderen Hand, sich zu ducken. Dem Kastellan wurde es unheimlich. Er hatte Angst und befürchtete nunmehr ernsthaft, auf dem besten Weg zu sein, sich tatsächlich eines Einbruchs mitschuldig zu machen.
Eigentlich kenne ich diesen Verrückten überhaupt nicht, schoss es ihm durch den Kopf. Vielleicht ist er doch ein Halunke? Immerhin habe ich ihn in einer Situation kennengelernt, als er sich nicht gerade wie ein Ehrenmann oder gar ein Adliger benommen hat. Womöglich stimmt die Geschichte, die er mir über seine Herkunft erzählt hat, nicht und er ist ein Wolf im Schafspelz, der sich mir gegenüber nur so freundschaftlich verhalten hat, weil er hoffte, in mir einen künftigen Helfershelfer für seine üblen Taten zu finden?
Ulrich wurde abrupt aus seinen Überlegungen gerissen. Jodok richtete sich etwas auf, um durch ein kleines Butzenscheibenfenster blicken zu können. Als er gesehen hatte, was er hatte sehen wollen, lächelte er, duckte sich wieder und schrie aus voller Brust: »Feurio! Feurio!«
Ein dumpfer Knall, Scheppern und lautes Fluchen deutete Jodok, dass er recht gehabt hatte und Bruder Laurentius – der Pförtner – im Begriff war, die Erholungszeit nach dem abendlichen Mahl so lange zu verlängern, bis seine Mitbrüder aus dem Kapitelsaal zurückkamen. Als sich der beleibte Pförtner endlich hochgerappelt hatte, entzündete er eilig wieder die heruntergefallene Kerze, die er an das Seitenfenster hielt, um festzustellen, von wem und woher das Geschrei gekommen war. Da er aber nichts sah, hastete er schnaufend aus dem Raum in den Flur, sperrte zitternd die Innenpforte auf und wollte gerade die Stufen hinunter zur äußeren Klosterpforte ins Freie rennen, um nachzusehen, wo es brannte, da stellte sich ihm Jodok in den Weg.
Laurentius, nicht gerade mit Mut gesegnet, ließ schon wieder die Kerze fallen, um sich dem Griff des Mannes, den er im Dunkel nicht erkennen konnte, zu entziehen. Da er glaubte, einen Einbrecher vor sich zu haben, wollte sich Bruder Laurentius schnellstens im sicheren Pförtnerzimmer verbarrikadieren, um von dort aus Alarm zu schlagen. Als er aber merkte, dass ihm dies nicht gelingen würde, versuchte er zu schreien, was ihm allerdings nicht möglich war, weil ihm Jodok mit seiner tellergroßen Hand den Mund zuhielt, während er selbst zu sprechen begann: »Gott zum Gruße, mein schneidiger Freund Laurentius!«
Es folgte ein Moment absoluter Stille.
Der Hüne löste langsam seine Hand vom Gesicht des Pförtners.
»Kreuzkruzifix! … Bruder Nepomuk! Dem Herrn sei Dank: Du bist es! Du bist zurück«, entfuhr es dem pausbäckigen Mönch, der sich zwar noch nicht ganz von seinem Schrecken erholt hatte, sich aber für sein Fluchen hastig bekreuzigte, bevor er den Riesen umarmte.
»Jetzt versteh’ ich überhaupt nichts mehr«, drang es fast zaghaft aus dem Dunkel hervor.
»Ach so: Das ist mein Freund Ulrich, ein Allgäuer Schlossverwalter, der
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