Der Peststurm
bewusst geworden war.
Während Sarah schluchzend auf den Boden glitt, drückte Lodewig kurz und fest ihre Hand – gerade so, als ob er ihr sagen wollte, er sei ganz nah bei ihr – während er mit der anderen Hand begann, sich einen Weg durch das Gewühle zu bahnen.
Als die Leute den Sohn des Kastellans und die zum katholischen Glauben konvertierte Jüdin sahen, bildeten sie gleichsam ehrfurchtsvoll und beschämt eine Schneise. Die Männer nahmen sogar die Hüte ab und senkten schlechten Gewissens ihre Häupter.
Nachdem Lodewig die Schar hinter sich gebracht hatte, gebot er Sarah, dort zu bleiben, wo sie gerade war. Er drückte sie fest an sich und strich ihr sanft durchs inzwischen wirre Haar.
Nachdem er sich allein so weit vorgekämpft hatte, wie er die Gluthitze gerade noch ertragen konnte, ging ein Raunen durch die Menge. Er stand vor einem braunschwarzen Durcheinander, dem nur die Glut und die letzten züngelnden Flammen etwas Farbe gaben. Laut rufend, lief er immer wieder um den verkohlten Balken- und Bretterverhau herum, um etwas zu sehen.
Obwohl ihm schnell klar war, dass Lea und sein Schwiegervater nicht mehr am Leben sein konnten, rief er laut nach ihnen und hielt immer wieder einen Moment inne, um auf eine Antwort zu warten. Anstatt der vertrauten und ersehnten Stimmen drangen aber nur das triumphierende Knistern der letzten Flammen oder gelegentliche Geräusche von in sich zusammenfallendem Holz an seine Ohren.
Auf seiner verzweifelten Suche nach den beiden Brandopfern zog er etliche teilweise noch glimmende Balken und Bretter auf die Seite. Immer wieder rief er nach Jakob und Lea. »Ja, hilft mir denn niemand?«, schrie er zornig in die stumm umherstehende Menge und packte sogar den am nächsten stehenden Mann am Kragen, der sich widerstandslos von ihm schütteln ließ. Lodewig stieß den Mann mit ganzer Kraft von sich und donnerte noch lauter als zuvor in die Menge: »Feiges Gesindel«, während er schon wieder um das brennende Chaos streifte. Als er sich beim Herausziehen eines Pfostens die Finger verbrannte, wurde ihm so langsam klar, dass dieses Unterfangen sinnlos war und er in Gottes Namen würde warten müssen, bis der Holzhaufen gänzlich niedergebrannt sein und die Hitze nachgelassen haben würde. Lodewig stand jetzt bewegungslos vor den traurigen Resten des ehedem schmucken Hauses und starrte darauf, wenn er sich nicht gerade nach Sarah umsah, die, immer noch an dem Platz, an dem er sie zurückgelassen hatte, in sich gekauert, vor sich hinweinte.
Obwohl er wusste, dass hier nichts mehr zu machen war, keimte – wenn er zu seiner Frau sah und an seinen Sohn dachte – ein klitzekleiner Hoffnungsschimmer in ihm auf, der ihm aber sofort wieder abhanden kam.
»Eine solche Brandkatastrophe kann niemand überleben«, murmelte er, als er von hinten angesprochen wurde und sich umdrehte.
»Junger Herr! Seid vernünftig und beruhigt Euch. Ihr könnt hier momentan nichts tun und müsst Euch gedulden, bis die letzte Glut erloschen ist. Sowie dies der Fall ist, helfe ich Euch, die … « Den Satz, dass er beim Bergen der Leichen helfen wollte, sprach der Mann nicht zu Ende, sondern legte nur eine Hand auf die Schulter des Schlossverwaltersohnes. Aber Lodewig verstand auch so, was er hatte sagen wollen.
Auf den Gedanken, Wasser aus dem Seelesgraben zu holen, um das restliche Feuer zu löschen, kam aufgrund der allgemeinen Erstarrung niemand. Die Männer sahen keinen Sinn darin, die letzten Reste eines fast völlig niedergebrannten Hauses abzulöschen. Warum auch sollten sie das Feuer bekämpfen, das sie selbst gelegt hatten?
Sarah hatte sich inzwischen ein kleines bisschen vom ersten Schrecken erholt, rappelte sich auf und ging wie in Trance auf ihr Elternhaus zu. Als die Menschen das Mädchen so apathisch vor sich hinlaufen sahen, bekreuzigten sie sich.
»Gott sei Dank! Wenigstens hat ein Mitglied dieser Familie überlebt«, rief der ›Pater‹ hinterfotzig so laut, dass es ja jeder hören konnte.
Obwohl die umherstehenden Leute ganz genau wussten, dass sie dieses Unglück selbst zu verantworten hatten, zeigte kaum einer von ihnen Pietät. Sie warteten nur neugierig darauf, was jetzt geschehen würde. Interessiert sahen sie, wie Lodewig wortlos seinen rechten Arm hob, damit Sarah darunterschlüpfen konnte. Die beiden standen eine ganze Zeit lang stumm da und starrten auf die Reste des ehemals respektablen Anwesens, in dem Sarah viele schöne Jahre im Kreise ihrer geliebten Familie hatte
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