Der Peststurm
seines Glaubens wegen, sondern in erster Linie, um seine ganzen Kräfte zu bündeln, damit er diesen seelischen Kraftakt überhaupt bewältigen konnte. Lodewig nahm dies auf sich, weil er unter allen Umständen verhindern wollte, dass Sarah und Judith Bomberg ihre Liebsten in diesem Zustand sehen würden.
Es dauerte lange, bis er sich dazu durchringen konnte, die grässlich aussehende Leiche unter den Achseln zu packen und nach draußen zu ziehen.
Dabei geschah das Malheur, dass ihm der Körper entglitt und Lodewig nur noch die Arme des Toten in seinen Händen hielt. Sehnen und Muskeln, die Arme und Torso verbunden hatten, waren aufgrund der immensen Hitze nicht mehr dazu in der Lage, ihre Dienste zu verrichten. Lodewig entfuhr ein Schrei, der bis zu Sarah drang. Wenn die hilfsbereite Frau sie nicht geistesgegenwärtig festgehalten hätte, wäre Sarah sofort zu Lodewig gerannt. Sie setzte alles daran, sich zu befreien, und benahm sich dabei wie eine Furie. Sie biss der Frau in die Hand, schrie hysterisch und schlug so lange wild um sich, bis sie von ihrem Mann hörte, dass ›alles in Ordnung‹ sei und er sich nur leicht verbrannt habe. Schluchzend sank Sarah wieder in die Arme der ihr fremden, aber irgendwie wohltuenden Beschützerin.
Nachdem Lodewig Jakobs Arme geborgen hatte, gelang es ihm auch, den restlichen Körper nach draußen zu ziehen. Sorgfältig legte er ihn in gebührendem Abstand zum Brandherd ins Gras und drapierte die Arme so dazu, als wenn damit nichts geschehen wäre. Als er dabei in Richtung Sarah blickte, deutete ihm die Frau, wo sie weitere Leintücher abgelegt hatte. Lodewig nickte dankbar und holte die zusammengefalteten Stoffteile, von denen er eines sanft über dem Toten ausbreitete.
Das zweite Leichentuch erinnerte ihn daran, dass ihm noch die entsetzlichste Arbeit bevorstand.
Kapitel 36
Das Geräusch einer Leprosenklapper schien den Takt für einen Singsang, der eher dem Geknarze einer Windmühle als dem eines biblischen Gesanges glich, vorzugeben, während etwas davon entfernt, in einer Wiese, ein Mann drei Mal das raue, kreischende Rätschen des Eichelhähers nachahmte. Wenn der Ruf dieses rötlich grauen Vogels normalerweise die Tiere des Waldes vor eindringenden Feinden warnte, lockte er jetzt vier verdreckte Gestalten aus einem Wäldchen unweit des höchsten Punktes auf dem Hahnschenkel heraus. Während sie – nachdem sie ihre Schaufeln, mit denen sie gerade Gruben ausgehoben hatten, beiseite gelegt hatten – neugierig vom Waldrand in Richtung Straße schlichen, hörten auch sie das näher kommende Lärmgemisch, das immer wieder durch Gebete aus der Sterbeliturgie unterbrochen wurde. Als der Westwind auch noch einen üblen Geruch, der durch das Verbrennen getrockneter Kräuter, Hühnermist, Weihrauch und wer weiß, durch was sonst noch, verursacht wurde, in Richtung Hahnschenkel trug, schlichen die fünf Männer in geduckter Haltung ein Stück den Berg hinunter. Es interessierte sie, wer diesen ungewöhnlichen Krach und den ekelerregenden Gestank verursachte. Und es interessierte sie, ob dort etwas zu holen war.
Als sie einen Zweispänner sahen, der sich den steilen Buckel hochmühte, beobachteten sie ihn ein Weilchen, bevor sie so schnell wieder im Gebüsch verschwanden, wie sie aufgetaucht waren. Aber schon gleich darauf kamen sie neuerlich aus ihrem Versteck hervorgekrochen.
Dieses Mal erweckten sie nicht gerade den Eindruck, als wenn sie nur neugierig sein würden. Sie hatten ihre Schlüsse aus dem eben Gesehenen gezogen und sich bis an die Zähne bewaffnet. Man konnte ihnen unschwer ansehen, dass sie darin geübt waren, ihre Waffen zu gebrauchen, wenn es nötig war. Und Notwendigkeit bestand für diese Halunken immer.
Während sich die Rösser anstrengen mussten, den großen Ladewagen den steilen Buckel hochzuziehen, sah der Kutscher vier furchterregend aussehende Gestalten auf sich zukommen. Während sich einer der Männer zur rechten und einer auf die andere Seite des Fuhrwerks begab, postierten sich zwei mit angelegten Musketen in einem gewissen Abstand dahinter. Für den Kutscher war von vorneherein klar, dass es sich um Wegelagerer handelte.
Aber warum schlagen sie nicht zu? Warum laufen sie stattdessen nur schweigend neben und hinter mir her?, fragte er sich.
Als er den höchsten Punkt des Hahnschenkels erreichte, sah er auf der anderen Seite des Buckels einen weiteren Mann, der grinsend mitten auf der Straße stand und mit einer brennenden
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