Der Peststurm
über die hohe Abstammung seines Freundes, während er einen Knicks vorführte, der eher dem Hinknien einer Bergziege glich als einer höfischen Ergebenheitsgeste.
Diesen Scherz bekam Nepomuk überhaupt nicht mit. Er hatte nur noch Augen für die Schönheit des in Öl gemalten Antlitzes seiner Halbschwester, nach dem er schon viel früher hätte fragen sollen.
»Ich sehe schon, dass du dich nicht von ihr abwenden möchtest, und werde dich deswegen mit ihr allein lassen.« Der Kastellan klopfte seinem Freund locker auf die Schulter. »Fühl dich hier wie zu Hause. Du weißt, dass du dich überall im Schloss frei bewegen kannst, ganz, wie es dir beliebt.«
Nepomuk blieb noch lange vor dem Gemälde stehen und stellte sich angesichts der unbeschreiblichen Schönheit dieser Frau die Frage über die Sinnhaftigkeit des Zölibats. Was wäre, wenn sie nicht meine Halbschwester wäre?, sinnierte er, verdrängte aber alle unkeuschen Gedanken, indem er sich selbst in Erinnerung brachte, dass Maria Renata bereits verehelicht und er ein Mönch war.
Dennoch stand für Johannes Nepomuk, den illegitimen Sohn des Fürsten von Hohenzollern-Sigmaringen, fest, dass er seine Halbschwester Maria Renata unbedingt kennenlernen musste.
*
Um sich abzulenken, erkundete Nepomuk nach der Begegnung mit dem faszinierenden Gemälde alle nur erdenklichen Winkel innerhalb und außerhalb des Schlosses, die er bisher noch nicht kennengelernt hatte. So kam er bei einem seiner Erkundungsgänge auch zu dem Ort, an dem Diederich den Tod gefunden hatte. Auch wenn laut dessen Vater alles zweifelsfrei auf einen Unfall hingewiesen hatte, war Nepomuk die Sache von Anfang an merkwürdig vorgekommen. Genau an der Stelle, an der Diederich ausgerutscht und den Abhang hinuntergefallen sein sollte, war die ebene Fläche von der Außenmauer des Schlosses bis zum Abgrund ziemlich genau acht Fuß breit. Warum soll der Knabe gerade am steilen Abhang entlanggelaufen sein, wenn an der sicheren Schlossmauer genügend Platz war?, fragte er sich, während er das Gelände genauer inspizierte.
Als er dabei ein Stückchen an der Mauer entlang Richtung Osten ging, sah er etwas – halbverdeckt– unter den Blättern liegen. Da er aber dachte, dass es ein Stück Rinde sei, beachtete er es nicht weiter. Als ihm das allerdings etwas merkwürdig aussehende Ding beim Rückweg wieder in die Augen stach, bückte er sich doch noch und hob es auf. Teilweise vermoost und vermodert, erkannte er nicht sofort, dass es sich um einen kleinen Lederbeutel handelte, dessen Inhalt ihn irritierte. Er beschloss, den Beutel umgehend Ulrich zu zeigen und mit ihm darüber zu sprechen. Außerdem würde er gerne den Unfallhergang rekonstruieren. Aber dazu sollte es so bald nicht kommen.
*
Von Konstanze und Lea wurde Nepomuks Heilkunst so stark in Anspruch genommen, dass er den Beutel erst einmal beiseitelegen musste und ihn darüber vergass. Dass er von den beiden gebraucht wurde, war ihm jetzt viel wichtiger. Da Judith und Sarah Bomberg ihr Schicksal mit den Dreylings von Wagrain teilten, konnten sie sich gegenseitig trösten und den Weg von der Finsternis des Todes zum Licht des Lebens gemeinsam gehen. Dabei halfen ihnen ihr gemeinsames Enkelkind und die kleine Lea in ganz besonderem Maße … und Nepomuk, dessen Anwesenheit ein Segen für alle Schlossbewohner war. Er half den beiden Trauerfamilien, dem Tod den Stachel wenigstens etwas zu nehmen.
»Dass Lea überlebt hat, ist ein Wunder«, bemerkte Judith immer wieder mit dankbaren Blicken zu Lodewig und zu Nepomuk, den sie trotz allem, was er für Lea getan hatte, immer noch irgendwie fürchtete.
Das Mädchen schien sich dank der sensiblen Hilfe des Mönchs nicht nur körperlich, sondern auch seelisch erstaunlich gut zu erholen. Mit viel Einfühlungsvermögen war es Nepomuk gelungen, dem verstörten Kind im Laufe der Wochen immer mehr Details seines schrecklichen Erlebnisses zu entlocken.
Lea war einerseits froh, es jemandem erzählen zu können, andererseits hatte sie Angst davor, ihrer Mutter und ihrer Schwester davon berichten zu müssen.
»Befragt das Kind um Gottes willen ja nicht zu seinem Erlebnis«, beschwor der Arzt Judith und Sarah. »Ich werde euch zu gegebener Zeit davon berichten. Es ist jetzt von vordergründiger Wichtigkeit, dass Lea das Erlebte mit meiner geistlichen Hilfe verarbeitet, um es möglichst schnell vergessen zu können. Verdrängen ist zu wenig und würde ihr auf Dauer nur schaden. Außerdem seid
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