Der Peststurm
ihr selbst auch noch nicht so weit, Details davon, was sich in eurem Haus abgespielt hat, zu erfahren. Im Moment muss es genügen, was man uns allen über den Brandhergang berichtet hat.«
Auch wenn Lea Nacht für Nacht schweißgebadet in den Armen ihrer Mutter aufwachte und oft nach ihrem Vater rief, dachte sie tagsüber immer weniger an ihn, an das Geschrei der bösen Menschen und an den grässlichen Brand. Wenn sie doch einmal daran erinnert wurde, weil ihre Mutter das Feuer im Kamin schürte oder sie irgendein laut krachendes Geräusch hörte, holte sie ihr Ei, streichelte es sanft und betrachtete es gedankenverloren. Da ihre Mutter schnell gemerkt hatte, wie wichtig Lea dieses Ei war, hatte sie den Inhalt durch die beschädigte Stelle entfernt und Lodewig hatte es wieder zusammengeklebt, indem er die Schale eines anderen Hühnereis zu Hilfe genommen hatte. Damit die verklebte Stelle nicht so auffiel, hatte er einen Schutzengel daraufgemalt.
»Ist dies nun ein jüdischer oder ein christlicher Schutzengel?«, hatte Lea gefragt, als sie das aus ihrer Sicht wunderschöne Ei zurückbekommen hatte.
»Das ist egal. Ich weiß nur, dass es dein ganz persönlicher Schutzengel ist«, hatte ihr Lodewig zur Antwort gegeben und sie sanft in den Arm genommen.
»Am kommenden Sonntag ist der erste Advent«, mahnte Bruder Nepomuk die Schlossbewohner, sich des Beginns der Vorbereitung auf Weihnachten zu besinnen. »Immerhin ist es die Geburt Christi«, erklärte er Judith, Sarah und Lea und wies sie auch in die Bedeutung der kommenden drei Adventsonntage ein.
»Ja, Weihnachten … «, murmelte Konstanze gedankenverloren, während sie verträumt aus dem Fenster zum Dorf hinunterblickte. Bald ist auch der Einzug Eginhards im Schloss, dachte sie, während inmitten der allgemeinen Traurigkeit ein Schauer des stillen Glücks über ihre gebeutelte Seele strich. Sie sehnte sich nach ihrem Ältesten und konnte es – noch mehr, als all die Jahre zuvor – kaum erwarten, Eginhard in die Arme zu schließen. Sie wollte heute noch in den Rittersaal hinübergehen, um dort aus dem Fenster zu schauen. Vom Südgebäude aus konnte sie zwar nicht bis nach Bregenz, ja, nicht einmal in diese Richtung sehen, aber sie würde eine gute Sicht in den Bregenzer Wald haben. Und dort war ihr geliebter Sohn.
»Was hast du gesagt, meine Liebste? Ich habe dich nicht verstanden«, riss Ulrich sie aus ihren Träumen.
»An Weihnachten kommt Eginhard zurück!« Während Konstanze weiter vor sich hin sinnierte, huschte ein Lächeln über ihre Lippen. »… Doctor Eginhard Dreyling von Wagrain zu Staufen! Amendt ein Professor! Hört sich das nicht großartig an?« Konstanze umarmte ihren Mann so innig, dass er sich wunderte, woher sie die Kraft dazu nahm. Dabei machte sie sich erst gar nicht die Mühe, die aufkommenden Freudentränen zu verbergen.
»Das, was du mir nach deiner Rückkehr aus Bregenz über unseren Erstgeborenen erzählt hast, hat mir die Kraft gegeben, gesund zu werden und Diederichs Tod wenigstens ein kleines bisschen zu verarbeiten.« Während sie dies sagte, legte sie ihr Haupt an Ulrichs Brust.
Er streichelte ihr lange übers Haar, bevor er erwiderte: »Ja, mein Schatz, ich bin auch stolz auf Eginhard. Vergiss dabei aber nicht, dass es Bruder Nepomuk war, der die giftigen Säfte aus deinem Körper vertrieben und dir zur Gesundung verholfen hat«, mahnte er seine Frau, die ihm noch hastig einen dicken Kuss verpasste.
»So, jetzt muss ich aber zusammen mit Judith das Mahl für uns bereiten.«
Der Kastellan bat sie nur noch, sich dabei nicht zu viel zuzumuten, bevor er sich für ihren Kuss revanchierte und sie dann gehen ließ. »Dies ist das zweite Wunder. Nepomuk ist fürwahr ein großer Heiler«, freute er sich über die außerordentlich gute und ungewohnt stabile Gesundheit seiner geliebten Frau sowie deren ungewöhnliche Zärtlichkeit.
Leas und Konstanzes Wohlbefinden gab den Mitgliedern beider Familien die Kraft, zuversichtlich dem bald kommenden neuen Jahr entgegenzublicken, obwohl die Bombergs ihren geliebten Jakob ebenso wenig vergessen würden wie die Dreylings von Wagrain den kleinen Diederich.
*
»Lodewig, hast du Zeit? Ich werde zum Propst hinuntergehen, um mit ihm die Adventsliturgie zu besprechen«, rief Nepomuk. »… oder vielmehr, um nachzufragen, ob mein mit Feigheit gestrafter Mitbruder aufgrund der hoffentlich endgültig vergangenen Pest diesbezüglich überhaupt etwas zu tun gedenkt«, murmelte er noch
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