Der Peststurm
durch die Straßen der Dörfer zu ziehen. Ihr Ziel war es gewesen, unheimliche Dämonen und böse Wintergeister zu vertreiben.
Auch nun – lange nach der Christianisierung – hatte sich die Angst vor dem Unbegreiflichen, vor dem Unfassbaren, noch nicht gelegt, und so frönten die ledigen Burschen des Dorfes noch immer diesem uralten heidnischen Brauch. So lange die Ältesten des Dorfes denken konnten, hatte das ›Klausentreiben‹ Jahr um Jahr in den Abendstunden des 6. Dezember mystische Urständ gefeiert. Erst als die Staufner vor einem Jahr geglaubt hatten, die Pest im Dorf zu haben, war darauf verzichtet worden, denn diese hartnäckige Seuche hätte sich nicht durch abergläubischen Mummenschanz vertreiben lassen.
Nachdem sich aber herausgestellt hatte, dass es nicht die am meisten gefürchtete aller Seuchen gewesen war, die fast 70 Menschenleben gefordert hatte, und mit dem damaligen Dorfmedicus Heinrich Schwartz der Schuldige dieses Massensterbens gefasst und gehängt worden war, hatte man diesen Brauch wieder aufleben lassen wollen. Jedoch war dieser fromme Wunsch durch die echte Pestepidemie jäh zerstört worden.
So war an eine Durchführung der liebgewonnenen Tradition auch heuer nicht zu denken. Demnach konnten es also nicht die Rumpelklausen sein, die diesen Krach verursachten. Es war Fabio, der seinen neuen Karren durch das Dorf zog und die restlichen Leichen einsammelte, um sie nach Weißach zu bringen, wo er sie heute noch vergraben wollte. Zumindest hatte er dies Propst Glatt versprochen.
Der junge Leichenbestatter erschrak, als er plötzlich die schemenhaften Umrisse einer Person vor sich sah. Um zu erkennen, wer sich ihm in den Weg stellte, kniff er die Augen zusammen.
»Herr! Seid Ihr es?«, rief er ins Dunkel des Morgens.
Fabio glaubte, um diese frühe Morgenstunde konnte außer ihm selbst nur noch der Totengräber so verrückt sein, durchs Dorf zu geistern. Erst als er der unheimlich anmutenden Gestalt näher kam, erkannte er, dass es sich um den Werkzeugmacher handelte.
»Macht den Weg frei! Ich habe die Pestilenz auf meinem Karren«, rief Fabio dem Handwerker warnend entgegen. Aber der Mann blieb mit ausgebreiteten Armen stehen und hinderte ihn am Weiterkommen.
»Was ist los, guter Mann? Kann ich Euch irgendwie helfen … oder wollt Ihr mir Böses?«, fragte Fabio verunsichert.
»Nein, ich möchte dir nichts tun. Aber du kannst mir in der Tat helfen. Ich kann dir zwar nichts bezahlen, bitte dich aber dennoch, mein totes Weib mitzunehmen und ordentlich zu bestatten. Sie ist heute Nacht der Pest erlegen.«
Der Werkzeugmacher wischte sich erst noch über die Augen und zog mit einem unangenehmen Geräusch Nasensekret zurück, um es daran zu hindern, seinen Körper gänzlich zu verlassen und auf den Weg zu tropfen.
So viel Sorgfalt im Umgang mit einer Pesttoten ist ungewöhnlich und muss belohnt werden, dachte Fabio, der nicht wissen konnte, dass die Frau nur aus dem Grund in Stoff genäht worden war, um zu vertuschen, dass sie ihrem Mann über Tage nach ihrem Tod als Nahrung gedient hatte.
Da der junge Leichenbestatter Fabio sich momentan reich wähnte, war er dementsprechend gut gelaunt und wollte den unglücklichen Mann an seinem Glück teilhaben lassen. »Aufrichtiges Beileid«, kam ihm mehr oder weniger glaubhaft über die Lippen. »In der Hoffnung, dass es mein letztes Werk sein wird, komme ich Eurem Wunsch nach und bringe Euer Weib nach Weißach, wo ich extra für sie ein Grab ausheben und sogar ein Kreuz aufstellen werde.«
Der hagere Handwerker wusste nicht, was er sagen sollte, und faltete die Hände, während er zu flennen begann und auf die Knie sank.
»Ist schon gut. Aber steht um Gottes willen wieder auf«, bat Fabio den dankbaren Mann. Um die ihm peinlich dünkende Situation aufzulösen, drängte er zur Eile und änderte den Tonfall: »Bringt mir die Tote und legt sie auf den Wagen zu den anderen. Ich muss mich sputen, da noch ein hartes Tagewerk vor mir liegt und ich ein gutes Stück Arbeit hinter mich gebracht haben möchte, bevor die Sonne die Verwesung und die damit einhergehende Geruchsbildung begünstigt.«
Fabio merkte, dass es nicht gut war, was er dem trauernden Wittiber gegenüber soeben geäußert hatte, und entschuldigte sich bei ihm, als dieser gerade dabei war, die sterblichen Überreste seiner Frau auf den Leichenkarren zu legen.
Während der Werkzeugmacher Fabio und seiner toten Frau so lange nachblickte, bis sie vom Nebel verschluckt wurden,
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