Der Peststurm
Mit den Worten »Gott befohlen« verabschiedete sich Johannes Glatt etwas mürrisch und ging zum Schlosstor, wo er noch kurz mit Siegbert, der Wachdienst hatte, redete, bevor er sich auf den Weg ins Dorf hinunter machte.
Kurz bevor er am Propsteigebäude ankam, sah er Fabio. »He! Was tust du?«, rief er fast rüde zur anderen Straßenseite hinüber.
Der entlassene Hilfstotengräber zuckte nur mit den Achseln: »Nichts! Was soll ich jetzt noch tun? Ich habe von meinem Herrn keinen Auftrag mehr.«
»Aber vom Ortsvorsteher«, rief der Propst zurück und winkte den ausgelaugt wirkenden Burschen mit der Hand, die er gerade noch als Schalltrichter benutzt hatte, zu sich herüber.
»Wer ist das denn? Wer ist der Ortsvorsteher?«, fragte Fabio mehr oder weniger interessiert.
»Wer wohl? Der Kastellan! Er hat dieses Amt derzeit kommissarisch inne«, klärte der Propst den scheinbar Unwissenden, aber lediglich Uninteressierten, auf und berichtete ihm, dass Ulrich Dreyling von Wagrain auf dem Pestfriedhof gewesen sei und dort einen unglaublichen Berg an menschlichen Körpern und zahllose ausgehobene Gräber vorgefunden habe. Er teilte Fabio auch den ausdrücklichen Wunsch des interimistisch eingesetzten Ortsvorstehers mit, dass alle Pesttoten unverzüglich bestattet werden sollten.
»Ich habe meine Arbeit in bester Art und Weise verrichtet und bin niemandem etwas schuldig«, entgegnete Fabio selbstbewusst, fügte aber noch an, dass es ihm leidtue, mit seiner Arbeit auf dem Pestfriedhof nicht mehr fertig geworden zu sein, solange er noch in Diensten des Totengräbers gestanden habe. Dennoch machte er kein Hehl daraus, dass er jetzt keine Lust mehr darauf hatte, um Gottes Lohn stinkende Leichen einzusammeln und sich womöglich doch noch zu infizieren. »Außerdem ist das Ausheben der Gräber eine Heidenarbeit«, setzte er noch trotzig nach.
»Aber der Kastellan wird dich gut dafür entlohnen, wenn du gleich morgen in aller Früh damit beginnst, genügend Gräber auszuheben, damit alle Toten, die sich noch im Dorf befinden und die du bereits nach Weißach gekarrt hast, ordentlich unter die Erde gebracht werden können. Wenn du damit fertig bist, werde ich in der dortigen Kapelle für die Hinterbliebenen eine Messe lesen«, versuchte der verklärt wirkende Kirchenmann, Fabio zu locken. Aber der lachte nur auf. »Ihr glaubt doch nicht allen Ernstes, dass sich auch nur ein einziger Staufner zum Pestfriedhof hinunter traut, um an einer Messe teilzunehmen. Selbst die früher ach so gottgefälligen Weißacher werden Euch die Gefolgschaft verweigern und der Kapelle fernbleiben. Obwohl in Weißach selbst kein einziges Opfer zu beklagen ist, hat sich die dortige Bevölkerung seit dem Tag, an dem ich den ersten Pesttoten aus Staufen dorthin gebracht habe, verbarrikadiert.«
»Vielleicht hat sie gerade das, … und natürlich unser Herr, geschützt?«, warf der Priester schnell dazwischen.
»Wie auch immer. Jedenfalls werden sich die Leute dort unten ebenso wie die Staufner hüten, sich dem Pestfriedhof zu nähern. Die braven Bauersleute fürchten sogar, dass die Geister der Pestischen über sie kommen und sie ebenfalls holen könnten«, erklärte Fabio die Situation aus seiner Sicht, wurde aber schon wieder vom Propst, der seine Hände beschwörend dem Himmel entgegenreckte, unterbrochen. »Versündige dich nicht, mein Sohn. Es gibt keine Geister und außerdem … «
Da Fabio zeitlebens niemand ernsthaft zugehört hatte, gefiel es ihm, dass jetzt gerade ein gelehrter Vertreter Gottes etwas von ihm wollte. Deshalb nutzte er die Situation aus und unterbrach nun seinerseits den Propst: »Aber es stimmt doch! Wenn Ihr den Mut dazu habt, begebt Euch selbst zu einem der Bauernhäuser hinunter, und Ihr werdet mit Euren eigenen Augen sehen, dass deren Bewohner zu ihrem Schutz auf den dem Pestfriedhof zugewandten Seiten ihrer Höfe sogar Heiligenschreine aufgestellt und mit allerlei Figuren, Kruzifixen, Rosenkränzen und Kräuterbuschen drapiert haben. Manche haben sogar Hühnerbeine, Fuchsschwänze oder Strohpuppen zur Abschreckung der Pestdämonen dazugelegt.«
Während der Propst entsetzt das Kreuzzeichen in Richtung Weißach schlug und verfluchte, kein Weihwasser bei sich zu haben, spürte Fabio das Eigenleben, das sein Kopfhaar schon in seiner frühen Kindheit entwickelt und ihn seither nie mehr verlassen hatte. Nur ungern unterbrach er seinen pathetischen Vortrag, musste sich aber dringend kratzen. Als er dabei auch noch sein Haar
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