Der Peststurm
Weißachbaches absuchten, blieb er in kurzen Abständen stehen, um zu lauschen, hörte aber nicht noch einmal etwas Verdächtiges.
Fabio befand sich jetzt dort, wo das Ufergeäst so dicht war, dass es die Szenerie verdunkelte. Der junge Leichenbestatter hangelte sich zwischen den Ästen bis zum Bachtobel hinunter. Er stolperte über Steine und Geröll ein Stückchen am Gewässer entlang. Da er weder bachauf noch bachab etwas entdeckte und seine Rufe unbeantwortet blieben, kletterte er wieder hoch und hetzte über die Wiese in die andere Richtung. Da Fabio auch dort nichts ausfindig machen konnte, blieb er neuerlich stehen, um zu lauschen. Aber er hörte nur das Rauschen der Blätter und das jetzt schon entfernt klingende Gurgeln des Baches.
»He! Ist hier jemand?«, rief er immer wieder, bekam aber keine Antwort.
Obwohl er sicher war, dass sich in der Kapelle niemand befinden konnte, rannte er zur Tür und drückte hastig die Klinke nach unten. »Klar: Verschlossen«, murmelte er zu seiner eigenen Bestätigung.
Danach durchsuchte er erst noch das gesamte Gelände, bevor er wieder zu seinem Ausgangspunkt ging.
Auch wenn es unmöglich sein kann, dass in der Kapelle jemand ist, werde ich mich dort doch noch etwas genauer umschauen, bevor ich wieder gehe, nahm er sich vor, während er zu dem kleinen Steingebäude eilte, um es von hinten zu umrunden.
Dabei trat er in die Reste, die zwischenzeitlich von der Ladefläche des Leichenkarrens auf den Boden gerutscht waren. Während er angewidert den Fuß im Gras abstreifte, fiel sein Blick zufällig auf die spitzbogigen Kapellenfenster. Einen Moment erwog er, durch eines der Fenster ins Kapelleninnere zu blicken, verwarf diesen Gedanken aber sofort wieder, weil sie viel zu hoch angebracht waren. Stattdessen begab er sich wieder zur Vorderseite des sakralen Gebäudes.
Als Fabio vor der Eingangstür stand, rüttelte er dieses Mal wesentlich fester und sogar mehrmals am Griff, bevor er sich bückte, um durch das Schlüsselloch zu spähen. Aber er konnte nichts sehen. Der Totengräber hatte seine Tasche innen an den Griff gehängt und sie beim überhasteten Verlassen der Kapelle vergessen. Fabio klopfte und rief, bekam aber keine Antwort. Als er mit seiner Nase am Schlüsselloch vorbeistrich, kam es ihm so vor, als wenn er menschliche Ausdünstungen und den Geruch von Exkrementen wahrnehmen würde.
»Ist da jemand drin?«, fragte er ungläubig und hämmerte noch ein paar Mal erfolglos gegen die Tür, bevor er wieder auf den Pestfriedhof rannte, um das kleine Gotteshaus aus ein paar Fuß Entfernung betrachten zu können. Er wollte einen Weg finden, um in die Kapelle hineinzukommen.
Fabio war verunsichert und wusste nicht, was er tun sollte. Er eilte wieder zur Tür, um ein weiteres Mal mit beiden Fäusten darauf zu hämmern und laut zu rufen. Immer wieder schnupperte er am Schlüsselloch, verlor aber schnell den vermeintlich menschlichen Geruch, der sich aufgrund der wechselnden Windrichtung jetzt zudem mit dem immer noch in der Luft liegenden Gestank der Leichenreste vermischte. Nachdem er trotz anhaltenden Rufens und Klopfens keine Antwort bekam, war er sicher, sich geirrt zu haben.
Obwohl er sich einen Narren schalt, blieb er noch eine ganze Weile vor der Kapellentür stehen, bevor er sich noch einmal auf dem Friedhof umsah und endgültig beschloss zu gehen. »Da ist nichts! Ich bin wohl etwas überarbeitet und habe deswegen die Geister der Toten gehört«, resümierte er und machte sich endgültig auf den Heimweg.
*
Mit gutem Gewissen wanderte Fabio zum zweiten Mal dorfwärts. Dass er sich zu alldem, was er in den vergangenen Monaten zum Wohle der Allgemeinheit geleistet hatte, jetzt auch noch darum bemühte, irgendwelchen unerklärlichen Geräuschen nachzugehen und sogar akribisch nach deren Ursache zu forschen, um womöglich jemandem in Not helfen zu können, machte ihn so richtig stolz.
Es ist ein komisches Gefühl, plötzlich ein guter Mensch zu sein; insbesondere, wenn man bisher aus jeder Stadt mit Schimpf und Schande vertrieben worden ist – und dies nur, weil man den hungrigen Magen beruhigen wollte, um durch dessen störendes Knurren seine Mitmenschen nicht zu belästigen, sinnierte er gut gelaunt. Es war aber auch ein beruhigendes Gefühl zu wissen, dass einem jetzt niemand mehr etwas Böses nachsagen oder gar etwas anhaben konnte. Bei diesen Gedanken verdrängte Fabio sogar die Erinnerung an Josen Bueb und dessen blutrünstige Meute, die
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