Der Peststurm
Probleme damit, die Hufabdrücke zu erkennen und mit deren Hilfe die vom Totengräber eingeschlagene Richtung festzustellen. Auf dem Hahnschenkel, wo sich vor wenigen Tagen noch eine Räuberbande herumtrieb, blies der Wind so heftig, dass sämtliche Spuren verweht waren. Als er den steilen Stich hinter sich gelassen hatte und in Richtung des tiefer gelegenen westlichen Teils des Allgäus kam, lag überhaupt kein Schnee mehr, was die Spurensuche auf eine andere Art erschwerte. So hatte die bisherige Verfolgung des Totengräbers unnötig viel der wertvollen Zeit in Anspruch genommen, ohne dass er so richtig vorwärtsgekommen war.
Jetzt hatte der Kastellan auch noch das Problem, dass er an der Abzweigung zur vielbenutzten Straße, die einerseits über verschlungene Wege an den Bodensee, andererseits direkt ins Oberschwäbische bis hin ins alte Frankenreich führte, stand und aufgrund der unzähligen Spuren, die ständig wechselnde Fuhrwerke mit Ochsen- oder Pferdegespannen, Kriegstrosse und Wanderer hinterlassen hatten, beim besten Willen nicht herausfinden konnte, in welche Richtung der Totengräber weiter geflüchtet sein könnte.
So viel der Kastellan auch danach fragte, bekam er anstatt brauchbarer Antworten meist nur dumme Sprüche zu hören oder ein nichtssagendes Achselzucken zu sehen. Außerdem herrschte immer noch Krieg, und die Pest verheerte nach wie vor viele Dörfer und Städte, deren Bewohner auf der Flucht waren und allerorten an den Straßenrändern saßen, um zu betteln oder zu rauben. Da er wusste, dass die Pest in Staufen zwar am Abklingen oder laut Aussage der Staufner Spitalleiterin möglicherweise sogar gänzlich erloschen war, er sich aber jetzt noch andernorts infizieren könnte, blieb er vorsichtig und versuchte, die Nähe oder gar Berührungen von Mensch und Tier zu vermeiden.
Um die vielen Abdrücke auf dem Boden besser untersuchen zu können, stützte er sich auf ein Knie und rieb die feuchte Erde zwischen seinen Fingern. Aber dies half ihm auch nicht weiter. Er überlegte, was er anstelle des Totengräbers getan hätte und in welche Richtung er geritten wäre. Aber es gelang ihm nicht, sich in den durch und durch gewitzten und verdorbenen Widerling hineinzuversetzen.
Wenn Berging an den Bodensee möchte, hätte er doch den direkten Weg nach Lindau nehmen können. Warum also dieser Umweg?, fragte er sich und vervollständigte seine Überlegungen mit der Verwunderung, dass der Totengräber von Staufen aus auch einen direkteren Weg nach Isny, Wangen, Ravensburg oder in andere Städte Oberschwabens hätte nehmen können.
Allerdings führte die vor ihm liegende Straße rechter Hand auch nach Aulendorf und schließlich nach Sigmaringen.
Aber was sollte Berging dort wollen? Kannte er in einem dieser Orte womöglich Leute, die ihn verstecken oder ihm anders weiterhelfen würden? Oder wollte er ganz einfach das Land verlassen und sich über Freiburg zu den Franzosen absetzen? Alles war möglich!
Während Ulrich Dreyling von Wagrain hin und her überlegte, keimte auch der Gedanke, die wahrscheinlich von vorneherein zum Scheitern verurteilte Suche jetzt gleich aufzugeben. Insbesondere, weil seine Frau nicht wusste, was er gerade so trieb, und seine Heimkehr herbeisehnte. Sie musste immer noch der Meinung sein, dass er beim Moosmannhof auf den Totengräber wartete, sich also in Staufen, in ihrer Nähe, aufhielt.
Die aufziehende Dunkelheit und die schmerzlichen Gedanken an seine Söhne, insbesondere an Lodewig, trugen ihren Teil dazu bei, dass der Kastellan dem Verzagen nahe war. Aber letztlich waren seine Angst um Lodewig und seine unbändige Wut auf den Totengräber stärker: Aufgeben kommt überhaupt nicht in Frage! Der Scheißkerl muss mich zu Lodewig führen, bevor er seiner gerechten Strafe zugeführt wird, … auch wenn mein Sohn tot sein sollte. Ich werde diesen Halunken finden, lenkte er seine Gemütslage in die einzig vernünftige Richtung. Aber in welche Richtung sollte er sich nun wenden? Wohin Ruland Berging auch geritten sein mochte, der Kastellan musste sich für einen der beiden Wege entscheiden. Als wenn es ihm bei seiner Entscheidung helfen würde, blickte er immer wieder abwechselnd nach links und nach rechts. Dabei tätschelte er sein treues Pferd, das tatenhungrig zu schnauben begann und mit dem rechten Vorderhuf über den Boden scharrte, während es auch noch wiederholt seinen Kopf nach rechts drehte. Dies wertete der Kastellan als göttliches Zeichen und lenkte das
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