Der Peststurm
etwas, das ihr noch nicht wisst.«
Der Kastellan blickte lange in die Runde und stellte fest, dass sofort wieder Angst unter den Kirchenbesuchern keimte, weil sie nicht wussten, was er meinen könnte. Wie schon im vergangenen Jahr, nur aus einem anderen Beweggrund heraus, begannen die Menschen, sich an den Händen zu halten, während sie auf das warteten, was ihnen der Ortsvorsteher jetzt zu sagen hatte.
»Ja! Reicht euch die Hände zum Frieden und zur dauerhaften Liebe. Genauso, wie es mein Sohn Lodewig getan hat, als er durch unseren verehrten Propst Glatt mit Sarah Bomberg vermählt wurde und … «
Als dies die Menschen hörten, machte sich Erleichterung breit, und obwohl fast alle von der Vermählung wussten, unterbrachen Klatschen und Freudenrufe den Kastellan, der diese Beifallskundgebung zwar zur Kenntnis nahm, aber dennoch mit einer Handbewegung beiseitewischte. »Bei dieser Gelegenheit danke ich all jenen, die der Familie Bomberg jahrelang freundschaftlich verbunden waren und sie trotz ihres anderen Glaubens herzlich in ihrer Mitte aufgenommen haben, als sie nach Staufen gekommen sind.«
Der Kastellan zeigte zu Judith, bevor er weitersprach: »Hier vor euch steht eine tapfere Frau, von der ich euch etwas ausrichten soll … «
Die Menschen, die um Judith und Lea Bomberg herumstanden, traten ehrfürchtig einen Schritt zurück.
Auch Konstanze, die sich bisher bei ihrer Freundin eingehakt hatte, löste sich von ihr und trat etwas beiseite. Sie gehörte heute zu den wenigen, die einen traurigen Eindruck machten. Aber ihr war nun einmal nicht zur Freude zumute. Unabhängig davon, dass sie das Schicksal mit den meisten hier teilte, weil auch sie einen geliebten Menschen verloren hatte, war Eginhard nicht nach Hause gekommen, … obwohl doch Weihnachten war und er wusste, wie sehr sie ihn gerade jetzt brauchten.
Da stimmt etwas nicht, war sie sich sicher und würde Ulrich gleich morgen – Feiertag hin oder her – losschicken, damit er sich in Bregenz nach ihm erkundigte. Sie würde dann zu allem hin zwar auch noch ihren Mann vermissen und einmal mehr um ihn bangen, musste aber endlich wissen, warum Eginhard nicht gekommen war. Tief in ihre düsteren Gedanken versunken, bemerkte sie erst jetzt, dass ihr Mann nicht mehr weitersprach und es ganz still in der Kirche war.
Der Kastellan sah von oben, wie sich die Menschenmenge teilte und von ganz hinten drei Männer auf Judith und Lea zugingen. Er wusste, dass es normalerweise – außerhalb Staufens, in dem die Uhren oftmals verkehrt herum zu laufen schienen – absolut undenkbar war, dass Muslime oder gar Anhänger des mosaischen Glaubens an einem christlichen Gottesdienst teilnahmen. Deswegen befürchtete er jetzt, dass Judith und Lea abermals Leid zugefügt werden könnte. Da Eginhard nicht hier war und ihm deshalb auch nicht helfen konnte, deutete er Rudolph, sich sofort schützend vor die Bombergs zu stellen, während er selbst die Kanzeltreppe hinuntereilte. Es war still, als er und Rudolph vor Judith und Lea standen und sich die Kastellanin wieder bei ihrer Freundin eingehakt hatte. Während die drei Männer gemessenen Schrittes näher kamen, bildeten die Menschen einen großen Kreis um Konstanze und die beiden Jüdinnen. Das Mädchen drückte sich ängstlich an ihre Mutter und wartete auf das, was jetzt kommen würde.
Gut, dass ich wenigstens Sarah in Sicherheit wähnen kann, weil sie bei Lodewig geblieben ist … und zudem zum Christentum übergetreten ist, schoss es Judith durch den Kopf, während sie Lea rein vorsorglich hinter sich schob.
Aber die Männer schienen nichts Böses zu wollen. Jedenfalls sagte einer von ihnen in ruhigem Ton zu Judith, dass sie und ihre Tochter nichts zu befürchten hätten. Als sie dies hörten, deutete der Kastellan Rudolph, etwas beiseitezutreten, aber dennoch wachsam zu bleiben. Um ihre Solidarität mit den beiden Jüdinnen zu demonstrieren, hatte sich Konstanze jetzt ganz besonders fest bei ihrer Freundin eingehakt.
Einer der Männer – derjenige, der Lodewig an der Brandstätte hatte helfen wollen – trat vor. Man merkte, dass es dem hageren Handwerker schwerfiel, die richtigen Worte zu finden. Er schluckte und drehte unsicher seinen Hut in den Händen, bevor er endlich das sagte, was ihm die anderen Männer des Dorfes aufgetragen hatten: »Im Namen aller erbitten wir Eure Verzeihung«, brachte er knapp heraus, bevor er sich umdrehte und laut in die Menge rief, dass sie gemeinsam ein neues Haus für die
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