Der Pfad der Winde - Sanderson, B: Pfad der Winde - The Way of Kings - The Stormlight Archive, Book 1 (Part 2)
aber auch nicht gerade klein. So werden die Verbrecher zu Ködern. Ein Verurteilter darf um sofortige Hinrichtung bitten, aber wenn man eine Woche von der Klippe hängt und nicht gefressen wurde, ist man frei.«
»Passiert das oft?«, wollte Kaladin wissen.
Sigzil schüttelte den Kopf. »Nie. Aber trotzdem versuchen es die Gefangenen fast immer. Die Marabethianer haben ein Sprichwort für jemanden, der sich weigert, die Wahrheit einer bestimmten Sache einzusehen: Du hast Augen aus Rot und Blau. Rot für das tropfende Blut und Blau für das Wasser. Es heißt, dass die Gefangenen nur diese beiden Farben wahrnehmen. Normalerweise werden sie innerhalb eines Tages angegriffen. Dennoch wollen die meisten ihr Glück auf die Probe stellen. Aber ihre Hoffnung entpuppt sich am Ende immer als falsch.«
Augen aus Rot und Blau, dachte Kaladin und stellte sich das furchtbare Bild vor.
»Du leistest gute Arbeit«, sagte Sigzil, stand auf und ergriff seine Schüssel. »Zu Anfang habe ich dich gehasst, weil du die Männer belogen hast. Aber inzwischen habe ich begriffen. Falsche Hoffnungen machen sie glücklich. Du gibst ihnen
Medizin – wie einem Todkranken, damit er nicht mehr leidet, bevor er stirbt. Diese Männer können jetzt ihre letzten Tage mit Lachen verbringen. Du bist wirklich ein Heiler, Kaladin der Sturmgesegnete.«
Kaladin wollte noch etwas einwenden und sagen, dass es keine falsche Hoffnung war, aber er konnte es nicht. Er wusste zu viel.
Einen Augenblick später stürmte Fels aus der Baracke. »Jetzt fühle ich mich wieder wie ein richtiger Alil’tiki’i!«, verkündete er und hielt das Rasiermesser hoch. »Meine Freunde, ihr könnt gar nicht wissen, was ihr getan habt! Eines Tages werde ich euch mit in die Berge nehmen und euch die Gastfreundschaft von Königen vorführen!«
Trotz all seiner Beschwerden hatte er sich den Bart nicht vollständig abgenommen. Er hatte lange, rotblonde Koteletten stehen lassen, die sich bis zum Kinn bogen. Das Kinn selbst hatte er genauso sauber rasiert wie die Haut um die Lippen herum. Es stand dem großen Mann mit dem ovalen Gesicht sehr gut.
»Ha!«, sagte Fels und schritt zum Feuer. Er packte die erstbesten beiden Männer und drückte sie gleichzeitig an sich. Dabei hätte Bisig beinahe seinen Eintopf ausgespuckt. »Dafür mache ich euch alle zu meiner Familie. Die Humaka’aban ist der ganze Stolz des Bergbewohners! Jetzt fühle ich mich endlich wieder wie ein richtiger Mann. Hier. Diese Klinge gehört nicht nur mir allein, sondern uns allen. Jeder, der sie gebrauchen will, soll das ruhig tun. Es ist eine große Ehre für mich, sie mit euch zu teilen.«
Die Männer lachten, und einige nahmen sein Angebot an. Kaladin gehörte jedoch nicht zu ihnen. Es … es war ihm einfach gleich. Er ergriff die Schüssel mit Eintopf, die Dunni ihm brachte, aber er aß nicht davon. Sigzil setzte sich nicht neben ihn, sondern zog sich lieber zur anderen Seite des Lagerfeuers zurück.
Augen aus Rot und Blau, dachte Kaladin. Ich weiß nicht, ob das auf uns passt. Für ihn bedeutete es, dass die Brückenmannschaft wenigstens eine schwache Aussicht auf ein Überleben hatte. Doch in dieser Nacht fiel es Kaladin schwer, sich das einzureden.
Er war nie ein Optimist gewesen. Er betrachtete die Welt so, wie sie war, oder er versuchte es wenigstens. Doch das war schwierig, wenn die Wahrheit, die er zu sehen bekam, so schrecklich war.
O Sturmvater, dachte er und spürte das zerschmetternde Gewicht der Verzweiflung, während er auf seine Schüssel herunterblickte. Ich werde wieder zu dem Mann, der ich früher einmal war. Ich verliere mich.
Er konnte ja nicht die Hoffnungen aller Brückenmänner auf seinen Schultern tragen.
Er war einfach nicht stark genug dafür.
5
ALDS UND MILP
FÜNF JAHRE UND ZWEI MONATE FRÜHER
K aladin drückte sich an der kreischenden Laral vorbei und taumelte in das Operationszimmer. Trotz der jahrelangen Zusammenarbeit mit seinem Vater schockierte ihn die Menge an Blut, die sich in diesem Raum verteilt hatte. Es war, als hätte jemand einen Eimer mit hellroter Farbe über den Boden geschüttet.
Der Geruch verbrannten Fleisches schwebte in der Luft. Lirin arbeitete wie ein Rasender an Hellherr Rillir, Roschones Sohn. Aus dem Bauch des Jungen stach ein langer, stoßzahnähnlicher Knochen hervor, und das rechte Bein war zerschmettert. Es hing nur noch an einigen Sehnen, und Knochensplitter ragten wie die Spitzen von Schilfrohr heraus, die aus einem Teich wuchsen.
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