Der Pfad des Zorns - Das Buch und das Schwert 1: Buch & Schwert 1 (German Edition)
Zuflucht finden.
Tag und Nacht und überall wird man ihn verfolgen
wie ein wildes Tier,
das vor der Treibjagd flieht.
S ie flohen. Jeden Tag. Ohne Ende. Schweigend zogen sie durch die Salinen, durchquerten Sümpfe und bahnten sich Wege durch hohes Gras und Sumpfland. Von Dorf zu Dorf, von Lager zu Lager in den tiefsten Mooren. Ihr einziges Ziel war, Laerte zu schützen und ihn so weit wie möglich aus Etienne Azdekis stetig wachsendem Schatten herauszuhalten. Drohend und böse spürte ihn der Junge ständig in seinem Rücken. Manchmal drehte er sich um, weil er meinte, die Anwesenheit des kaiserlichen Hauptmanns zu spüren, der ihn mit Blicken herausforderte. Doch da war nichts als der unebene Weg.
Sie waren etwa zwanzig, meistens ehemalige Gardisten, die ihre Rüstungen abgelegt hatten, um wie einfache Bauern auszusehen. Oft ließen sie Laerte und Esyld hinten auf dem Karren fahren. Alle trugen Lumpen und wirkten wie arme Schlucker auf der Flucht vor dem Krieg. Azdekis Truppen durchkämmten das gesamte Gebiet und durchsuchten die Flüchtlingstrecks. Auch die Flüchtlinge waren schon mehrfach angehalten worden, doch sie hatten jedes Mal Glück. In solchen Situationen schmiegte sich Esyld ganz nah an Laerte, nahm seine Hand und flüsterte ihm tröstende Worte ins Ohr.
Nach jeder Durchsuchung bedeuteten die völlig überforderten Soldaten ihnen, weiterzufahren. Azdekis Männer hatten keine Ahnung, wie sie Laerte von Uster erkennen sollten. Wer wusste schon, wie der Junge aussah? Und welcher Bewohner der Salinen, der es hätte wissen können, hätte ein unschuldiges Kind dem sicheren Tod ausgeliefert?
Oratio von Uster war bei seinem Volk sehr beliebt gewesen. Sein Tod hatte seine Untertanen sehr geschmerzt, und sein letztes überlebendes Kind dem Zorn des Kaisers auszuliefern hätte bedeutet, sein Andenken zu schmähen. Alle Listen, in denen Laertes Name auftauchte, wurden verbrannt, jede Nennung vernichtet. Und die wenigen Menschen, die Laertes Alter und Aussehen kannten, schwiegen beharrlich.
Die stumme Unterstützung schützte sie auf ihrer Flucht. Die Menschen im Land setzten ihr Schweigen als letztes Bollwerk gegen den Wahn eines kaiserlichen Hauptmanns ein. Nicht eine Zunge löste sich. Azdeki musste erkennen, dass er seinen ersten Irrtum begangen hatte. In seiner Eile hatte er dieses Kind übersehen, einen kleinen Jungen.
Das Gerücht, dass der jüngste Sohn des Grafen überlebt hatte, schürte im Volk reges Treiben. Einer nach dem anderen griffen die Bewohner der Grafschaft zu den Waffen, Bauernhöfe rebellierten, und Dörfler verschanzten sich in ihren kleinen Weilern. Der Aufstand begann sich zu formieren, und Hauptmann Meurnau fühlte sich bereit, alles zu tun, damit eine Revolution daraus wurde.
»Trinkt das«, sagte er zu Laerte bei einer Rast am Straßenrand.
Der Junge saß unter einer Plane verborgen hinten im Karren und griff nach der Feldflasche, die der Hauptmann ihm reichte. Seit Monaten reisten sie nun ziellos durch das Land. Laerte sprach nur selten. Meist blieb er stumm, wirkte abwesend, und sein Blick wurde von Tag zu Tag finsterer.
Der Junge trank einen Schluck, wischte sich den Mund ab und reichte die Feldflasche zurück. Meurnau tat das Gleiche und setzte sich rechts neben Laerte auf den Rand des Fuhrwerks. Seufzend betrachtete er die Moore rechts und links der Straße. In der Ferne quoll dichter schwarzer Rauch in den wolkenverhangenen Himmel.
»Das Dorf Aguel. Sie haben es niedergebrannt«, sagte Meurnau leise.
Je näher der Winter kam, desto mehr Dörfer in der Umgebung von Guet d’Aëd erhoben sich gegen den Kaiser. Die weiter entfernt gelegenen Städte hatte der Aufstand längst erreicht. Nachdem die auf das Schnellverfahren gegen ihren geliebten Grafen folgende Betäubung vergangen war, meldete sich in der Bevölkerung der Salinen die Wut zurück.
Auch nach seinem Tod blieb Oratio von Uster ein Dorn im Auge des Kaisers. Sein Andenken wühlte die Menschen auf und stachelte sie zum Aufstand an. Aguel war nicht das einzige Dorf, das von Azdekis Truppen geschleift wurde, und es würde sicher nicht das letzte bleiben.
»Wisst Ihr, warum sie das tun?«, fragte Meurnau.
Laerte hatte sich schon die gleiche Frage gestellt. Ebenso, wie er immer noch nicht verstand, warum seine Familie beim Kaiser in Ungnade gefallen war. Sein Leben lang hatte er sich unter Emeris eine Stadt der Weisen vorgestellt, wo die Geschicke des Landes unter der Herrschaft eines gnädigen Kaisers
Weitere Kostenlose Bücher