Der Pfad des Zorns - Das Buch und das Schwert 1: Buch & Schwert 1 (German Edition)
ein Mann und ich nur eine junge Frau, die gerade erst den Kinderschuhen entwachsen ist.«
Zum ersten Mal senkte Laerte ihr gegenüber den Blick.
»Laerte?«, fragte sie leise.
Er sah sie an. In seinen Augen lag unendliche Trauer. Wie gern hätte sie ihn umarmt, sich an ihn geschmiegt und mit ihrer Wärme seinen Gram gelindert!
»Ich bin nebenan, falls du … nun ja, vielleicht willst du ja reden.«
Stumm und unbeweglich blieb er stehen, bis sie die Tür hinter sich geschlossen hatte. Ihm war nicht danach, sie zurückzuhalten.
Ich bin nur eine junge Frau, die gerade erst den Kinderschuhen entwachsen ist.
Seufzend setzte sich Laerte auf den Bettrand und fragte sich, wie ihm das hatte passieren können. Ausgerechnet ihm, der sich so oft dagegen aufgelehnt hatte, wenn man ihn als Jungen bezeichnete und von vorneherein davon ausging, dass er irgendetwas nicht schaffen würde. Obwohl Viola mehr als zwanzig Jahre zählte, betrachtete er sie immer noch als kleines Mädchen.
Zum ersten Mal gesehen hatte er sie, als sie fünfzehn war.
»Bist du ein Ritter?«, hatte sie ihn gefragt. Sie saß an einem Schreibtisch und hatte einen Stapel geöffneter Bücher vor sich.
Ihre noch rundlichen Wangen waren mit Sommersprossen übersät, in den dunkelgrünen Augen glomm ein maliziöser Funke, und ihre Haut war so weiß wie frischer Schnee. Laerte hatte nicht geantwortet. Nach Jahren der Irrfahrt war er gekommen, um De Page zu treffen, und konnte nichts mit diesem kleinen Mädchen anfangen. Stärker denn je war er in die Villa zurückgekehrt und bereit, seine Rache zu vollenden. Jetzt, fast sechs Jahre später, saß er in der nächtlichen Wärme Masalias auf einem Bettrand.
Er ließ sich rückwärts fallen. Sein Herz war waidwund. Esyld, dachte er. Sicher liebte sie ihn noch immer. Vermutlich hielt Azdeki sie gefangen. Das war es! Der Mann bedrohte sie, und sie hatte ihn angelogen, weil er es von ihr verlangte.
Noch einmal ließ Laerte Revue passieren, was sie gesagt hatte, Wort für Wort. Es hatte überzeugend geklungen. Verzweifelt suchte er nach der kleinsten Ungewissheit, der geringsten Schwäche, einer noch so winzigen Äußerung, die ihn vom Gegenteil hätte überzeugen können. Irgendein minimaler Verdacht, der Ich liebe dich bedeuten konnte.
Darüber schlief er ein.
Im Haus war es sehr still. Die Öllampen im Salon brannten langsam herunter. Dun lag auf dem Sofa, betrachtete den leeren Weinkrug auf dem niedrigen Tisch und studierte anschließend müde seine Hände. Dunkle Adern traten unter der fleckigen Haut hervor. Er hob die rechte Hand und hielt sie vor sich. Sie begann zu zittern. Dun biss die Zähne zusammen. Das also war von ihm übrig geblieben – ein schwächlicher Körper.
»Hier bekommt ihr, was euch zusteht, da könnt ihr sicher sein«, murmelte er.
Er war nach Masalia gekommen, um zu sterben, doch er hatte das wiedergefunden, wovor er fliehen wollte. Und was noch schlimmer war: Sein Leben, auf das er immer so stolz gewesen war, hatte sich als gigantisches Lügengespinst erwiesen.
Als die ersten Sonnenstrahlen über die Hafenstadt tasteten, stand Dun in der Küche am Tisch, auf dem ein in eine Decke eingehülltes Schwert lag. Noch nie hatte er gewagt, es zu berühren. Eraëd hatte die Gürtel der größten Kaiser geziert, und obwohl er seine Macht anzweifelte, weil er keinen Beweis dafür erhalten hatte, konnte er sich nie überwinden, es anzufassen. Es war der Respekt vor denjenigen, denen zu dienen er vor Jahren geschworen hatte.
Hastig schlug er die Decke beiseite. Vor ihm lag die schimmernde Klinge. Wenige Zentimeter vor dem vergoldeten Griff blieb seine Hand in der Schwebe. Wer war er, dass er sich gestatten durfte, dieses Schwert zu schwingen? Der Mann, den zu schützen er gelobt hatte, hatte ihn zerstört. Wer war er, dass er sich erlauben konnte, sein Schwert zu nehmen?
War es überhaupt ein Schwert? War es nicht viel mehr ein Relikt des Kaiserreichs? Und was für ein Reich! Ein Reich voller Verrat, Hass, Mord und Verwahrlosung.
Schließlich entschloss er sich. Mit der Waffe in der schweißfeuchten Hand betrat er den Hof. Kaum hatte er den ersten Fuß auf den Kies gesetzt, als er das Schwert auch schon kreisen ließ. Ein paarmal wäre es ihm fast aus der Hand gerutscht. Seine abgehackten Bewegungen wirkten unnatürlich, wohl eine Folge des Entzugs. Ein wenig verloren versuchte er, imaginäre Angriffe zu parieren und hieb in die Luft, doch seine Bewegungen blieben unpräzise. Dreimal fiel
Weitere Kostenlose Bücher