Der Pfad des Zorns - Das Buch und das Schwert 1: Buch & Schwert 1 (German Edition)
erklärte Dun.
Grenouille streckte den Arm mit geöffneter Hand aus. Der General wartete, sah zu, wie der Junge erstarrte und sich seine Armmuskulatur anspannte wie ein in Vibration versetztes Holzstück. Doch nichts geschah.
»Du hast nämlich keine Ahnung, was den Odem ausmacht«, sagte er und steckte sein Schwert zurück in die Scheide.
Der Junge ließ Arm und Kopf sinken, doch Dun spürte seinen brodelnden Zorn, der jederzeit ausbrechen konnte. Ein Zorn, der einzig auf seinem eigenen Versagen beruhte. Dun trat auf ihn zu und hob sein Gesicht mit dem Finger zu sich empor.
»Der Odem wird von einem Ritter zum nächsten weitergegeben. Er ist keine natürliche Gabe, und man muss zunächst begreifen, auf welche Weise er wirkt. Behalte das immer im Kopf. Du musst die Dinge erspüren, Grenouille. Du brauchst nicht einmal die Augen zu öffnen, um sie zu sehen – es genügt zu wissen, dass sie existieren. Du musst ihr Leben spüren …«
Aber Grenouille wandte den Kopf ab, als wollte er nicht zuhören. Sein verletzter Stolz geriet zur Unverfrorenheit.
»Schließ die Augen«, donnerte der General.
Der Junge gehorchte. Er mochte frech sein, aber bestimmt nicht dumm.
»So«, fuhr Dun mit weicherer Stimme fort, »und jetzt versuche, dem Wind zu lauschen. Folge ihm zwischen den Bäumen hindurch. Du fliegst mit ihm. Du hörst die Vögel. Nein, nicht ihren Gesang, sondern …« Er beugte sich vor und flüsterte: »… den Schlag ihrer Herzen.«
Grenouilles Gesicht entspannte sich. Seine Atmung wurde ruhiger und langsamer.
»Die Erde … die ganze Welt ist wie Luft, die kommt und geht. Das ist der Odem . Der Atem der Welt. Jeder kann ihn hören. Aber spüren? Oder gar kontrollieren? Das ist viel, viel schwieriger. Du musst lauschen. Dich konzentrieren. Spüre den Odem . Sei der Odem .«
Grenouilles Atem beschleunigte sich wieder. Als Dun sah, wie der Junge die Brauen runzelte, wusste er, dass er ihn dort hatte, wo er ihn haben wollte. Der Rhythmus seiner Worte und seine ruhige Stimme hatten den Kleinen in Hypnose versetzt.
»Spüre den Odem . Sei der Odem «, fuhr er langsam fort. »Spüre ihn, Grenouille. Atme das Leben. Atme seinen Rhythmus. Die Magie ist in dir. In dem Atem, den du ausstößt. Sie ist wie Musik. Man kann sie spielen. Man muss ihr nicht immer nur zuhören. Spüre sie. Legato. Stakkato. Stell dir den Baum dort vor. Empfinde ihn. Spürst du ihn?«
Aller Zorn war verraucht, Kränkung und Anspannung waren verschwunden. Grenouille stand voller Vertrauen neben Dun, und der wartete einen Moment, ehe er plötzlich die Stimme erhob.
»Spüre den Odem , Grenouille. Und jetzt schlag zu!«
Grenouille riss den Arm hoch. Ein Heulen wie im Herzen eines Sturms war zu hören. Welke Blätter wurden aufgewirbelt, und eine Furche grub sich in Windeseile auf einen Baum zu. Die Rinde flog davon; der Baum spaltete sich mehrere Zentimeter. Ächzend, wie ein Sterbender.
Erst jetzt öffnete Grenouille die Augen. Dun stand neben ihm und legte ihm die Hände auf die Schultern. Er wusste um die Schmerzen, die einen nach der ersten Manifestation des Odems überkamen. Als er sah, wie der Junge halb erstickt nach Luft schnappte, erinnerte er sich des heftigen Brennens in der Brust und der bleiernen Schwere aller Muskeln nach seinem eigenen ersten Versuch. Grenouille stolperte unbeholfen vorwärts und ging in die Knie. Dun nahm ihn in die Arme und half ihm, sich hinzusetzen.
»Ruhig, Junge. Ganz ruhig«, murmelte er.
Ich verspreche …
Grenouille hustete keuchend und mit Tränen in den Augen.
Grenouille …
»Der Odem – man muss lernen, ihn zu gebrauchen. Verstehst du jetzt? Eines Tages wirst du ihn beherrschen, das verspreche ich dir. Aber als Gegenleistung musst du mir schwören, nie mehr solche Dummheiten zu machen wie gestern.«
… schläft noch. Ihr könnt ihn nicht wecken.
Sich räuspernd und mit immer noch zuckendem Körper nickte Grenouille.
Er schläft noch!
»Ich verspreche es«, presste er zwischen zwei Hustenanfällen hervor.
Dann weckt ihn!
Aber er schläft doch.
Weckt ihn, ich muss mit ihm reden.
Die Stimmen klangen gedämpft, doch er verstand jedes Wort.
»Geht jetzt bitte«, sagte eine Stimme.
»Das werde ich nicht tun. Erst muss ich mit ihm sprechen«, entgegnete eine andere, nicht minder energische Stimme.
Im Zimmer war es hell. Langsam öffnete er die Augen. Die verblichenen Zierleisten an der Decke über ihm waren in ein seltsam goldenes Licht getaucht. Er wollte den Kopf drehen, doch in
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