Der Pfad des Zorns - Das Buch und das Schwert 1: Buch & Schwert 1 (German Edition)
lange fern der Welt gelebt. Was weiß ich schon von der Republik? Was weiß ich von den Menschen, die den Zusammenbruch des Kaiserreichs überlebt haben? Ich würde gern vor meinem Tod noch etwas Gutes tun. Nicht für irgendein Kaiserreich und auch nicht für die Republik, sondern einfach nur, um Leben zu retten. Ganz so, wie ein Ritter es getan hätte. Oder ein General …«
Mit einem Mal verschwanden aus Mildrels von der Sonne vergoldetem Blick alle Vorwürfe, alle Trauer und Wut. Nur noch tiefe Zuneigung leuchtete aus ihren Augen.
»Verrate mir doch, wie du mich siehst, Mildrel«, wiederholte er leise, ehe er hinzufügte: »Und ich bin mir ganz sicher, dass es Logrid war. Wirklich sicher. Er will sich an jenen rächen, die das Kaiserreich auf dem Gewissen und die Seiten gewechselt haben. Das muss es sein.«
Er öffnete die Tür.
»Ich bin untröstlich«, entfuhr es ihm leise.
»Warum?«
»Deinetwegen. Unseretwegen. Es ist ein Hohn. Ich konnte immer nur den Tod geben …«
Er verließ das Zimmer und schloss die Tür hinter sich, ehe er mit brüchiger Stimme fortfuhr: »… doch niemals das Leben.«
8
KAPERNEVIC
»Du nennst mich Sumpfschnepfe, nicht wahr?
Dann lass uns doch bei so etwas bleiben.
Da du Tiere zu mögen scheinst,
werde ich dich Grenouille nennen.
Grenouille, der Frosch.«
J eder Schritt fiel ihm schwer. Jede Bewegung verstärkte den Kopfschmerz und fühlte sich an wie der Lärm einer tobenden Schlacht, deren Echo überdauerte. Er strebte vorwärts und bemühte sich, seine Würde zu wahren, doch sein Gleichgewichtssinn war so mitgenommen, dass er sich immer wieder an Hauswänden abstützen musste.
»Geht es noch?«, fragte Viola.
In der lauten und belebten Straße wirkte sie wie ein Leuchtturm – strahlend und tröstlich mit ihrem süßen Gesicht und den beiden flammend roten Locken, die sich neben ihren Wangen hervorstahlen. Ihr Lavendelparfum beruhigte ihn. Die ockerfarbenen Mauern von Masalia waren eine Tortur für seine Augen, denn sie reflektierten das Sonnenlicht hart und brutal. Er kniff die Augen zusammen.
»Geht schon.«
»Es ist nicht mehr weit«, sagte sie, um ihm Mut zu machen.
Schwach und bleich lehnte er sich an eine Hauswand und verwünschte seine Trunksucht. Warum hatte er überhaupt so viel getrunken? Das Bild eines gefüllten Krugs tauchte vor seinen Augen auf, als wäre der Inhalt die einzig mögliche Lösung, seinen Schmerz zu betäuben. Er betrachtete seine Hände. Die rechte zitterte.
»Platz da! Platz da!«, befahl eine laute Stimme.
Passanten wichen auseinander, um eine Gruppe Gardisten vorbeizulassen. Es war sicher die vierte, der sie auf dem Weg begegneten. Die Soldaten marschierten im Gleichschritt. Ihre Stiefel patschten durch den Schlamm, die Lanzenspitzen schimmerten hoch über den Helmen. Lanzen, die nie benutzt worden waren. Diese Soldaten hatten niemals eine Schlacht geschlagen, doch sie strebten voller Stolz vorwärts. Mitleiderregend, dachte Dun.
»Es hat wohl mit diesem Mord zu tun. Dem Tod von Marquis von Enain-Cassart«, erklärte Viola. »Seit gestern Nachmittag wird die Stadt durchkämmt.«
»Na, dann viel Glück«, grinste er.
Sie kamen an einer alten Kirche vorbei. Vor dem offenen Portal standen vier Männer in schwarzen Gewändern. Ihre Schädel waren kahl rasiert, jeder hielt ein Buch in der Hand. Im Chor psalmodierten sie heilige Verse. Dun erkannte Auszüge aus dem Liaber Moralis , einem der Grundfesten des Fangol-Ordens. Nachdenklich blieb er stehen. Wie oft hatte er schon den Predigten der Mönche gelauscht? Konnte er sich noch an alles erinnern, was gut oder verwerflich war? Der Singsang zog einige Passanten in seinen Bann. Früher hatten die Menschen zu Hunderten den Gottesdiensten beigewohnt, doch der Glaube schien sich zu verlieren. Andere Religionen nahmen seinen Platz ein. Inzwischen wurde die Schlangenverehrung der Nâagas von allen toleriert, ebenso, wie man den Götterdienst der Südinseln respektierte. Außerdem kursierten Gerüchte um ein »Kind des Wassers«, einen Messias, der eines Tages die Erde läutern würde. Dun aber war im Schatten des Liaber Dest aufgewachsen, in dem das Schicksal der Menschen unumstößlich festgeschrieben stand. Mit dem Liaber Moralis hatte er gelernt, Gut und Böse zu unterscheiden, und den Respekt vor den Göttern lehrte das Liaber Deis . Ob die Republik noch auf den Fangol-Orden hörte? Oder war längst in Vergessenheit geraten, wie hart die Mönche gearbeitet hatten, um eine gerechte
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