Der Pfad des Zorns - Das Buch und das Schwert 1: Buch & Schwert 1 (German Edition)
einziges Mal aus der Scheide gezogen.«
»Ihr seid schwach«, stellte Dun sachlich fest. Er wollte den Kaiser nicht angreifen, sondern nur eine unleugbare Wahrheit aussprechen.
»So war ich immer«, antwortet der Kaiser mit einem schmerzlichen Lachen. »So war ich immer, mein Freund. Haben mein Onkel und mein Vater Euch nicht aus diesem Grund zu meiner Hand gemacht? Ihr wisst genau, wie ich bin: gebrechlich, schwach und abstoßend. Manche halten mich sogar für ein Monster. Obwohl …« Er hielt inne und räusperte sich, ehe er fortfuhr: »… obwohl ich in Wirklichkeit wie ein Vater für sie bin. Für das Volk, meine ich. Was würden sie ohne mich tun? Selbst Entscheidungen treffen, so wie es sich Oratio von Uster erträumte? Können sich die Leute von der Straße überhaupt vorstellen, wie es ist, für die eigenen Geschicke verantwortlich zu sein? Sie sind doch nur … Kinder! Kinder, für die ich verantwortlich bin. Wie für dieses Reich. Und das steht seit Anbeginn der Zeiten geschrieben.«
»Ihr habt auf sie gehört«, flüsterte Dun. »Auf Azdeki, Rhunstag und Bernevin. Sie haben Euch zu ihrer Marionette gemacht. Also sprecht mir nicht von Verantwortung.«
Das anschließende Schweigen schien ein Eingeständnis zu sein.
»So einfach ist das nicht«, verteidigte sich der Kaiser nach einer Weile. »Während Ihr an der Front wart, ist viel geschehen. Ich könnte Euch so einiges erzählen – aber ein anderer würde alles vielleicht ganz anders berichten.«
Ein metallisches Geräusch erklang an der Tür.
»Es ist wie die beiden Seiten einer Münze«, murmelte der Kaiser. »Auf der einen Seite ist das Bild meiner Mutter, auf der anderen das Siegel des Reichs. Zwei Dinge, die in Form und Bedeutung völlig unterschiedlich sind, und dennoch ist es immer die gleiche Münze. Genauso ist es mit den Ereignissen. Es hört sich immer anders an – je nachdem, wer von ihnen berichtet.«
Was versuchte der Kaiser ihm begreiflich zu machen? Dieser Mann, den er seit seiner Jugend verteidigte und für den er immer den Kopf hingehalten hatte, hatte ihm das Wertvollste in seinem Leben genommen. Etwas, das ihm wichtiger war als seine Ehre und all seine Siege. Er hatte ihm ein Teil seiner selbst entrissen.
»Ich habe die Exekution von Oratio von Uster befohlen, weil der Mann gefährlich war. Er war es wirklich, Dun-Cadal.«
Der General hörte, wie der Kaiser aufstand.
»So hat man mir erzählt«, fügte Reyes hinzu.
Dun spürte, wie der Kaiser seine Hand von außen auf das eisige Metall legte.
»Das Gleiche gilt für Euren jungen Freund. Solche Dinge geschehen eben. Gerüchte, die von einem Ohr zum nächsten weitergetragen werden. Aber in Wirklichkeit ist alles vorherbestimmt, und so wird es auch enden. Ich nehme an, Ihr werdet mir nicht vergeben.«
Seine Schritte entfernten sich langsam wie eine Erinnerung. Eine, die unendlich fern ist.
Die Dunkelheit der Zelle wich mit einem Mal warmem, weichem Licht. Hinter den hohen Häusern mit den blumengeschmückten Balkonen ging die Sonne Masalias unter. Ja, der Kaiser war nur noch eine ferne Erinnerung und Dun-Cadal ein Mann mit verlebtem Gesicht unter dem ergrauenden Bart.
»Nicht, dass ich etwa Dank erwarte«, erklang eine sanfte Stimme, während er durch eine menschenleere Gasse lief. Dem Tumult in der Hauptstraße mit ihren Händlern war er ausgewichen.
Er sah sich um und blickte in das freundliche Gesicht der jungen Frau aus Emeris. Sie lächelte, doch er hatte nicht die geringste Lust, mit ihr zu reden. Hastig lief er weiter. Ein schöner Wein würde ihm jetzt sicher guttun.
»Aber wenn Ihr Euch trotzdem dazu durchringen könntet, würde ich es als echtes Kompliment nehmen.« Viola gab nicht auf. Sie rannte fast hinter ihm her.
Dun ging mit forschen Schritten weiter, wusste aber schon jetzt, dass er sie nicht loswerden würde. In seinem Kopf erklangen Logrids Worte: Ich werde nicht gegen dich kämpfen. Nicht, solange ich die Waffe nicht habe.
Eraëd. Viola war hinter dem Schwert her, Logrid ebenfalls. Dabei hatte Dun nie daran gezweifelt, dass er das Geheimnis seines Verstecks mit ins Grab nehmen würde. Allerdings … Seine Neugier meldete sich. Schließlich geschah nichts durch Zufall.
»Im Rat schien man zu glauben, dass Ihr es wart, der Negus getötet hat. Aber ich habe ihnen plausibel gemacht, dass es unmöglich gewesen wäre«, berichtete Viola atemlos, während sie versuchte, mit ihm Schritt zu halten. »Ich musste für Euch bürgen. Allerdings hat mir
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