Der Pfad im Schnee
Kaede schöner denn je. Krankheit und Leid hatten die letzten kindlichen Spuren in ihren Zügen getilgt und ihnen Tiefe und Geheimnis gegeben.
Sie feierten das neue Jahr mit Fujiwaras Geschenken und aßen Buchweizennudeln und schwarze Bohnen, die Ayame am Ende des Sommers für diese Gelegenheit beiseite getan hatte. Um Mitternacht gingen sie zum Tempel und hörten die Gesänge der Priester und das Läuten der Glocken, die um das Erlöschen menschlicher Leidenschaften flehten. Kaede wusste, dass sie darum beten sollte, von ihnen allen befreit und gereinigt zu werden, doch sie ertappte sich beim Gebet um das, was sie sich am meisten wünschte: dass Takeo lebte, und dann Geld und Macht.
Am nächsten Tag gingen die Frauen des Hauses mit Kerzen, Weihrauch und Laternen, runzligen Mandarinen, süßen Kastanien und getrockneten Dattelpflaumen zu der Stelle, wo der Shirakawafluss aus einer Reihe unterirdischer Höhlen strömte. Hier vollzogen sie ihre eigenen Zeremonien vor dem Felsen, den das Wasser in die Gestalt der Weißen Göttin verwandelt hatte. Kein Mann sollte je zu diesem Platz kommen; wenn einer kam, könnte der Berg einstürzen und der Shirakawa versiegen. Ein altes Paar lebte hinter einem Schrein am Höhleneingang - nur die Frau ging hinein und brachte der Göttin Opfergaben. Kaede kniete sich auf den feuchten Stein und hörte zu, wie die alte Stimme Worte murmelte, deren Bedeutung sie kaum verstand. Sie dachte an ihre Mutter und Lady Naomi und bat um deren Hilfe und Fürsprache. Sie erkannte, wie viel dieser heilige Platz ihr bedeutete, und sie spürte, dass die Göttin sie beschützte.
Am nächsten Tag ging sie zu Lord Fujiwara. Hana war bitter enttäuscht, dass sie zurückgelassen wurde, und weinte, als sie sich nicht nur von Kaede, sondern auch von Shizuka verabschieden musste.
»Es ist nur für ein paar Tage«, sagte Kaede.
»Warum kann ich nicht mitkommen?«
»Lord Fujiwara hat dich nicht eingeladen. Außerdem würde es dir dort nicht gefallen. Du müsstest dich ordentlich benehmen, in höflichen Phrasen reden und fast den ganzen Tag still sitzen.«
»Wird es dir gefallen?«
»Ich glaube nicht.« Kaede seufzte.
»Wenigstens werdet ihr leckere Dinge essen.« Sehnsüchtig fügte Hana hinzu: »Wachteln!«
»Wenn wir bei ihm essen, wird es hier mehr für dich geben«, sagte Kaede. Das war tatsächlich einer der Gründe, warum sie gern eine Zeit lang weg war, denn sie mochte noch so oft die Lebensmittelvorräte betrachten und die Wintertage zählen, es blieb offenkundig, dass sie vor dem Frühjahr nichts mehr zu essen haben würden.
»Und jemand muss den jungen Mitsuru unterhalten«, fügte Shizuka hinzu. »Du musst dafür sorgen, dass er nicht zu viel Heimweh hat.«
»Das kann Ai machen«, sagte Hana. »Er mag Ai.«
Kaede war das auch aufgefallen. Ihre Schwester hatte keine Sympathie für den jungen Mann erkennen lassen, aber sie war schüchtern in solchen Angelegenheiten - und überhaupt, dachte Kaede, kam es denn auf ihre Gefühle an? Ai würde bald verlobt werden müssen. Das neue Jahr hatte ihren vierzehnten Geburtstag gesehen. Wahrscheinlich würde Sonoda Mitsuru, wenn sein Onkel ihn adoptierte, eine gute Wahl sein, aber Kaede würde ihm ihre Schwester nicht billig überlassen.
In einem Jahr werden sie Schlange stehen, um eine Shirakawa zu heiraten, sagte sie sich.
Ai war bei Hanas Bemerkung leicht errötet. »Gib Acht auf dich, ältere Schwester«, sagte sie, während sie Kaede umarmte. »Mach dir keine Sorgen um uns. Ich werde mich um alles hier kümmern.«
»Wir sind nicht weit weg«, antwortete Kaede. »Du musst nach mir schicken, wenn du meinst, ich werde gebraucht. Und« - auf diesen Satz konnte sie nicht verzichten - »falls irgendwelche Botschaften für mich kommen, falls Kondo zurückkehrt, lass es mich sofort wissen.«
Am frühen Nachmittag kamen sie bei Lord Fujiwara an. Der Tag hatte mild und bewölkt begonnen, doch während ihrer Reise drehte sich der Wind, kam nun aus Nordosten und die Temperatur sank.
Mamoru hieß sie willkommen, überbrachte die Grüße des Edelmanns und führte sie nicht zu den Gästezimmern, wo sie zuvor übernachtet hatten, sondern zu einem anderen, kleineren Pavillon, der weniger prunkvoll geschmückt, doch in Kaedes Augen noch schöner war in seiner eleganten Einfachheit und den gedämpften Farben. Sie war dankbar für diese Aufmerksamkeit, denn sie hatte gefürchtet, den zornigen Geist ihres Vaters in dem Zimmer zu sehen, wo ihm ihr Geheimnis
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