Der Pfad im Schnee
Kindheit.
»Geh und bring mir Wein«, befahl Kaedes Vater. »Ich will auf mein Enkelkind trinken.«
Kaede schauderte ängstlich, ihr war, als hätte sie das Leben des Kindes verfälscht, indem sie ihm eine falsche Identität gab. »Es ist noch so früh«, sagte sie leise. »Feiere noch nicht.«
»Kaede!«, rief Ayame, sie benutzte den Vornamen wie bei einem Kind. »Sag nicht so etwas, fordere das Schicksal nicht heraus.«
»Hol Wein«, sagte Kaedes Vater laut, »und schließe die Läden. Warum sitzen wir hier im Kalten?«
Während Ayame zur Veranda ging, hörten sie Schritte und Kondo rief: »Lady Otori!«
Shizuka ging zur Tür und redete mit ihm.
»Sag ihm, er soll hereinkommen«, befahl Kaede.
Kondo trat auf den Holzboden und kniete sich in den Eingang. Kaede merkte, dass er sich kurz im Raum umsah, dann sekundenschnell den Grundriss des Hauses in sich aufnahm und die Menschen darin einschätzte. Er zog es vor, sie anzusprechen, nicht ihren Vater.
»Ich habe im Dorf einige Lebensmittel auftreiben können. Ich habe die Männer ausgewählt, die Sie angefordert haben. Ein junger Mann ist gekommen, Amano Tenzo, er kümmert sich um die Pferde. Ich werde dafür sorgen, dass die Männer jetzt etwas zu essen bekommen, und Wachtposten für die Nacht aufstellen.«
»Danke. Wir reden morgen früh miteinander.«
Kondo verbeugte sich wieder und ging leise.
»Wer ist der Bursche?«, fragte ihr Vater. »Warum hat er nicht mich nach meiner Meinung oder Erlaubnis gefragt?«
»Er arbeitet für mich«, antwortete Kaede.
»Wenn er einer von Arais Männern ist, werde ich ihn in diesem Haus nicht dulden.«
»Ich habe gesagt, er arbeitet für mich.« Ihre Geduld ging zu Ende. »Wir sind jetzt mit Lord Arai verbündet. Er beherrscht fast alles in den Drei Ländern. Er ist unser Oberbefehlshaber. Das musst du akzeptieren, Vater. Iida ist tot, und alles hat sich geändert.«
»Soll das heißen, dass Töchter so mit ihren Vätern sprechen können?«
»Ayame«, sagte Kaede, »bringe meinen Vater in sein Zimmer. Er wird heute Abend dort essen.«
Ihr Vater begann zu protestieren. Zum ersten Mal in ihrem Leben hob sie gegen ihn die Stimme. »Vater, ich bin müde. Wir werden morgen reden.«
Ayame warf ihr einen Blick zu, den sie absichtlich übersah. »Tu, was ich dir sage«, befahl sie kühl und nach einem Augenblick gehorchte die Ältere und führte ihren Vater weg.
»Sie müssen essen, Lady«, sagte Shizuka. »Setzen Sie sich, ich werde Ihnen etwas bringen.«
»Kümmere dich darum, dass jeder etwas bekommt«, antwortete Kaede. »Und schließe jetzt die Läden.«
Später lag sie da und horchte auf den Regen. Ihre Familie, die Dienerschaft und ihre Männer waren gut untergebracht, einigermaßen gesättigt, in Sicherheit, falls Kondo zu vertrauen war. Sie überdachte die Ereignisse des Tages, die Probleme, mit denen sie sich befassen musste: ihr Vater, Hana, der heruntergekommene Zustand von Shirakawa, die umstrittene Domäne Maruyama: Wie sollte sie fordern und behalten, was ihr gehörte?
Wenn ich nur ein Mann wäre, dachte sie. Wie leicht wäre es dann. Was würde Vater nicht für mich tun, wenn ich sein Sohn wäre?
Sie wusste, dass sie skrupellos wie ein Mann war. Als Geisel im Schloss Noguchi hatte sie den Wachmann erstochen, ohne nachzudenken, doch Iida hatte sie absichtlich getötet. Sie würde wieder töten, bevor sie sich von einem Mann vernichten ließ. Ihre Gedanken wanderten zu Lady Maruyama. Ich wollte, ich hätte dich besser gekannt, ich wünschte, ich hätte mehr von dir lernen können. Es tut mir Leid, dass ich dir Kummer gemacht habe. Wenn wir nur offen miteinander hätten reden können. Ihr war, als sähe sie das schöne Gesicht vor sich und hörte wieder die Stimme. Dir vertraue ich mein Land und mein Volk an. Kümmere dich darum.
Das werde ich, versprach sie. Ich werde es lernen. Dass sie so mangelhaft ausgebildet war, bedrückte sie, doch das konnte korrigiert werden. Sie beschloss herauszufinden, wie man einen Besitz leitet, wie man mit Bauern spricht, wie man Männer ausbildet und Schlachten schlägt, alles, was einem Sohn von Geburt an beigebracht worden wäre. Vater wird mich lehren müssen. Das wird ihm helfen, über etwas anderes nachzudenken als über sich.
Sie spürte ein plötzliches Angst- oder Schamgefühl, vielleicht eine Mischung aus beidem. Was wurde aus ihr? War sie unnatürlich? War sie verzaubert oder verflucht? Sie war überzeugt, dass noch nie eine Frau so gedacht hatte wie sie
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