Der Pfad im Schnee
flehte: »Behandle mich, als wäre ich dein Sohn«, doch er weigerte sich, sie ernst zu nehmen.
»Eine Frau sollte gehorsam und nach Möglichkeit schön sein. Männer wollen keine Frauen, die denken wie sie.«
»Sie würden immer jemanden haben, mit dem sie reden können«, widersprach sie.
»Männer reden nicht mit ihren Frauen, sie reden unter sich. Überhaupt hast du keinen Mann. Du würdest deine Zeit besser damit verbringen, wieder eine Heirat zu planen.«
»Ich werde niemanden heiraten«, sagte Kaede. »Deshalb muss ich lernen. Alles, was ein Mann für mich tun würde, muss ich selbst tun.«
»Natürlich wirst du heiraten«, entgegnete er kurz. »Etwas wird arrangiert werden.« Doch zu ihrer Erleichterung unternahm er nichts in dieser Richtung.
Sie besuchte ihn weiter jeden Tag, kniete neben ihm, wenn er Tuschstein und Pinsel vorbereitete, und beobachtete jeden Strich. Kaede konnte die fließende Schrift der Frauen lesen und schreiben, ihr Vater jedoch schrieb in der Sprache der Männer, in der die Zeichen so undurchdringlich und fest aussehen wie Gefängnisgitter.
Sie schaute geduldig zu, bis er ihr eines Tages den Pinsel reichte und sagte, sie solle die Schriftzeichen für Mann, Frau und Kind schreiben.
Weil sie von Natur aus Linkshänderin war, nahm sie den Pinsel in diese Hand, doch als sie sein Stirnrunzeln sah, schob sie ihn in die andere. Die rechte Hand zu gebrauchen bedeutete wie immer, dass sie sich mehr anstrengen musste. Sie schrieb kühn, wobei sie seine Armbewegungen nachahmte. Er betrachtete das Ergebnis lange.
»Du schreibst wie ein Mann«, sagte er endlich.
»Tu, als wäre ich einer.« Sie spürte seinen Blick auf sich und erwiderte ihn. Er starrte sie an, als würde er sie nicht kennen, als würde sie ihn wie ein exotisches Tier zugleich erschrecken und faszinieren.
»Es wäre interessant zu sehen«, sagte er, »ob ein Mädchen unterrichtet werden kann. Schließlich habe ich keinen Sohn und werde nie einen haben.«
Er hielt inne und starrte blicklos in die Ferne. Es war das einzige Mal, dass er, wenn auch nur indirekt, auf den Tod ihrer Mutter anspielte.
Von da an wurde Kaede von ihrem Vater in allem unterrichtet, was sie als Junge schon längst gelernt haben würde. Ayame missbilligte das sehr, genau wie die meisten im Haushalt und die Männer, vor allem Shoji, doch Kaede kümmerte sich nicht darum. Sie lernte rasch, obwohl vieles von dem, was sie nun erfuhr, sie zur Verzweiflung brachte.
»Vater bringt mir nur bei, warum Männer die Welt regieren«, beklagte sie sich bei Shizuka. »Jeder Text, jedes Gesetz erklärt und rechtfertigt ihre Macht.«
»Das ist der Lauf der Welt«, entgegnete Shizuka. Es war Nacht und sie lagen flüsternd nebeneinander. Ai, Hana und die anderen Frauen schliefen im angrenzenden Zimmer. Die Nacht war still, die Luft kalt.
»Nicht jeder glaubt das. Vielleicht gibt es andere Länder, wo anders gedacht wird. Selbst hier gibt es Leute, die es wagen, anders zu denken. Lady Maruyama zum Beispiel…« Kaedes Stimme wurde noch leiser. »Die Verborgenen…«
»Was wissen Sie über die Verborgenen?« Shizuka lachte leise.
»Du hast mir vor langer Zeit von ihnen erzählt, als du bei den Noguchi zu mir kamst. Du sagtest, sie glauben, jeder sei von ihrem Gott gleich geschaffen. Ich weiß noch, dass ich dachte, du und sie, ihr müsst verrückt sein. Aber jetzt, wo ich lerne, dass sogar der Erleuchtete schlecht von Frauen spricht - oder dass zumindest seine Priester und Mönche das tun -, da frage ich mich, warum das so sein soll.«
»Was erwarten Sie?«, sagte Shizuka. »Es sind Männer, die Geschichtsbücher und heilige Texte schreiben. Sogar Gedichte. Man kann die Welt nicht verändern. Sie müssen lernen, wie man in ihr arbeitet.«
»Es gibt Schriftstellerinnen. Ich erinnere mich, dass ich in Schloss Noguchi ihre Geschichten gehört habe. Aber Vater sagt, ich soll so etwas nicht lesen, es verdirbt meinen Verstand.«
Manchmal glaubte sie, dass ihr Vater Lesestoff für sie nur danach auswählte, dass er Herabsetzendes über Frauen enthielt, und dann wieder dachte sie, vielleicht gebe es gar keine anderen Werke. Vor allem missfiel ihr Konfuzius, den ihr Vater ungeheuer bewunderte. Nach dem Diktat ihres Vaters schrieb sie eines Nachmittags die Gedanken des Weisen nieder, als ein Besucher erschien.
In der Nacht war das Wetter umgeschlagen. Die Luft war feucht mit einem Hauch von Frost. Der Rauch von Holzfeuer und der Nebel vermischten sich in den Tälern. Im
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