Der Pfad im Schnee
führen, falls sie es wünschte, denn häufig waren Struktur und Duft des Gegenstands so wichtig wie sein Aussehen. Er zeigte ihr eine Kostbarkeit nach der anderen und packte jede wieder ein und legte sie zurück, bevor er die nächste enthüllte.
»Ich schaue sie mir selten an«, sagte er, es klang liebevoll. »Immer wenn ein unwürdiger Blick auf sie fällt, schmälert sie das. Schon sie auszupacken ist ein erotischer Akt für mich. Sie mit einem anderen zu teilen, dessen Blick ihre Besonderheit steigert, statt sie zu vermindern, gehört zu meinen größten, aber seltensten Vergnügen.«
Kaede sagte nichts, sie wusste wenig über den Wert oder die Tradition der Gegenstände vor ihr: die Teeschale aus der gleichen rosabraunen Keramik, fragil und robust zugleich, die blassgrüne Jadegestalt des Erleuchteten, die im Lotus saß, die goldlackierte Schachtel, die ebenso einfach wie kompliziert war. Kaede schaute nur, und es schien ihr, als hätten die schönen Dinge ihre eigenen Augen und würden zurückschauen.
Mamoru blieb nicht, um die Gegenstände zu betrachten, doch nach einer Zeit, die lange erschien - für Kaede war die Zeit stehen geblieben -, kam er mit einem großen, flachen Kasten zurück. Fujiwara nahm ein Gemälde heraus: eine Winterlandschaft mit zwei Krähen im Vordergrund, die sich schwarz vom Schnee abhoben.
»Ah, Sesshu«, flüsterte sie; zum ersten Mal sagte sie etwas.
»Nicht Sesshu, sondern einer seiner Meister«, korrigierte er sie. »Es heißt, das Kind könne die Eltern nichts lehren, doch bei Sesshu müssen wir zugeben, dass der Schüler den Lehrer übertraf.«
»Sagt man nicht, das Blau der Farbe sei tiefer als das Blau der Blume?«, entgegnete sie.
»Ich nehme an, das findet Ihren Beifall.«
»Wenn weder Kind noch Schüler je weiser wären, gäbe es niemals Veränderungen.«
»Und die meisten Menschen wären sehr zufrieden!«
»Nur jene, die Macht haben«, sagte Kaede. »Sie wollen ihre Macht und Stellung erhalten, während andere die gleiche Macht sehen und begehren. Alle Männer haben es an sich, ehrgeizig zu sein, deshalb sorgen sie für Veränderungen. Die Jungen stürzen die Alten.«
»Und haben es auch die Frauen an sich, ehrgeizig zu sein?«
»Niemand macht sich die Mühe, sie zu fragen.« Ihr Blick kehrte zu dem Gemälde zurück. »Zwei Krähen, der Erpel und die Ente, der Hirsch und die Hirschkuh - immer werden sie zusammen gemalt, immer in Paaren.«
»So will es die Natur«, sagte Fujiwara. »Zwischen Mann und Frau besteht schließlich eine der fünf Beziehungen des Konfuzius.«
»Und die einzige, die Frauen offen steht. Er sieht uns nur als Gattinnen.«
»Das ist es, was Frauen sind.«
»Aber bestimmt könnte eine Frau auch eine Herrscherin oder eine Freundin sein?« Ihr Blick begegnete seinem.
»Sie sind sehr kühn für ein Mädchen.« So belustigt, beinahe lachend, hatte sie ihn noch nie gesehen. Sie errötete und betrachtete wieder das Bild.
»Terayama ist berühmt für seine Sesshus«, sagte Fujiwara. »Haben Sie die Bilder dort gesehen?«
»Ja, Lord Otori wollte, dass Lord Takeo sie sah und kopierte.«
»Ein jüngerer Bruder?«
»Sein Adoptivsohn.« Auf keinen Fall wollte Kaede mit Fujiwara über Takeo reden. Sie suchte nach einem neuen Gesprächsstoff, aber nichts fiel ihr ein als die Erinnerung an das Bild von dem kleinen Bergvogel, das Takeo ihr geschenkt hatte.
»Hat er Rache geübt? Er muss sehr tapfer sein. Ich bezweifle, dass mein Sohn so viel für mich tun würde.«
»Er war sehr still.« Sie sehnte sich danach, über ihn zu reden, und fürchtete es zugleich. »Sie würden ihn nicht für besonders tapfer halten. Er zeichnete und malte gern. Es stellte sich heraus, dass er furchtlos ist.« Sie hörte ihre eigene Stimme und hielt abrupt inne, bestimmt konnte er sie durchschauen.
»Ah!« Fujiwara betrachtete wieder lange das Bild.
»Ich darf mich nicht in Ihre Angelegenheiten mischen«, sagte er schließlich und sah sie wieder an. »Aber sicher werden Sie mit Lord Shigerus Sohn verheiratet.«
»Es gibt andere Überlegungen.« Sie versuchte es leichthin zu sagen. »Ich besitze hier und in Maruyama Land, auf das ich Anspruch erheben muss. Wenn ich mich bei den Otori in Hagi verstecke, verliere ich vielleicht das alles.«
»Ich spüre, dass Sie für einen so jungen Menschen viele Geheimnisse haben«, murmelte er. »Ich hoffe, eines Tages von ihnen zu hören.«
Die Sonne glitt zu den Bergen. Die Schatten der riesigen Zedern streckten sich allmählich
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