Der Pfad im Schnee
ihnen Mamoru, spielten Das Schlagholz. Die Aufführung verstörte Kaede zutiefst. Bei ihrem kurzen Besuch hatte Mamoru sie genauer studiert, als sie gemerkt hatte. Jetzt sah sie sich porträtiert, sah ihre Bewegungen, hörte ihre eigene Stimme seufzen: Der Herbstwind erzählt von erkalteter Liebe, als die Frau langsam wahnsinnig wurde, während sie auf die Rückkehr ihres Mannes wartete.
Glanz des Mondes, Hauch des Windes. Die Worte des Chors schmerzten sie wie ein Nadelstich im Fleisch.
Raureif schimmert im bleichen Licht und ängstigt das Herz, wenn das Holz immerzu schlägt und die Nachtwinde stöhnen.
Tränen traten ihr in die Augen. Die Frau auf der Bühne, eine Frau, die nach ihr geformt war, empfand genau die gleiche tiefe Einsamkeit und Sehnsucht wie sie. In dieser Woche hatte Kaede Ayame sogar geholfen, ihre Seidengewänder mit dem Schlagholz zu klopfen, um sie zu entstauben und zu glätten. Ihr Vater hatte dazu bemerkt, das anhaltende Klopfen des Schlagholzes gehöre zu den unvergesslichen Herbstgeräuschen. Das Drama raubte Kaede alle Abwehrkräfte. Sie sehnte sich vorbehaltlos und schmerzhaft nach Takeo. Wenn sie ihn nicht haben könnte, würde sie sterben. Doch selbst während ihr das Herz brach, erinnerte sie sich daran, dass sie um ihres Kindes willen leben musste. Und ihr war, als spürte sie das erste winzige Flattern seiner schwachen Bewegung in sich.
Über der Bühne schien kalt der glänzende Mond des zehnten Monats. Rauch von den Kohlepfannen stieg himmelwärts. Das leise Schlagen der Trommeln fiel in die Stille. Die kleine Zuschauergruppe war hingerissen, ergriffen von der Schönheit des Monds und dem Ansturm der Gefühle.
Hinterher gingen Shizuka und Ai in ihr Zimmer zurück, doch Kaede wurde zu ihrer Überraschung von Lord Fujiwara gebeten, in der Gesellschaft der Männer zu bleiben, während sie Wein tranken und eine Reihe exotischer Speisen aßen, Pilze, Landkrabben, eingelegte Maroni, winzige Tintenfische, die in Eis und Stroh von der Küste hergebracht worden waren. Die Schauspieler gesellten sich zu ihnen, ihre Masken hatten sie weggelegt. Lord Fujiwara lobte sie und dankte ihnen mit Geschenken. Später, als der Wein die Zungen gelöst und den Geräuschpegel gehoben hatte, wandte er sich leise an Kaede.
»Ich bin froh, dass Ihr Vater mit Ihnen gekommen ist. Ich glaube, er hat sich nicht wohl gefühlt?«
»Sie sind sehr freundlich zu ihm«, antwortete sie.
»Ihr Verständnis und Ihre Rücksichtnahme bedeuten viel für uns.« Sie hielt es nicht für schicklich, die Verfassung ihres Vaters mit dem Edelmann zu besprechen, doch Fujiwara gab nicht nach.
»Verfällt er oft in düstere Zustände?«
»Von Zeit zu Zeit ist er ein wenig labil. Der Tod meiner Mutter, der Krieg…« Kaede schaute zu ihrem Vater hin, der erregt mit einem der älteren Schauspieler diskutierte. Seine Augen funkelten und er sah tatsächlich etwas verrückt aus.
»Ich hoffe, Sie wenden sich an mich, wenn Sie irgendwann Hilfe brauchen sollten.«
Kaede verneigte sich schweigend, sie war sich der großen Ehre bewusst, mit der er sie auszeichnete, und zugleich verwirrt durch seine Aufmerksamkeit. Noch nie hatte sie so in einem Raum gesessen, der voller Männer war, sie fand, sie sollte nicht da sein, war aber unsicher, wie sie sich entfernen sollte. Er wechselte geschickt das Thema.
»Wie fanden Sie Mamoru? Ich meine, er hat viel von Ihnen gelernt.«
Einen Moment zögerte sie mit der Antwort und sah von ihrem Vater zu dem jungen Mann, der seine weibliche Rolle abgelegt hatte, aber immer noch Anflüge davon, von ihr selbst, zeigte.
»Was kann ich sagen?«, erklärte sie schließlich. »Er kam mir brillant vor.«
»Aber…?«, fragte er.
»Sie stehlen alles von uns.« Sie hatte es scherzhaft sagen wollen, doch auch in ihren Ohren klang es bitter.
»Sie?«, wiederholte er leicht überrascht.
»Männer. Sie nehmen alles von den Frauen. Selbst unseren Schmerz - den Schmerz, den sie uns verursachen - stehlen sie und stellen ihn als ihren eigenen dar.«
Seine dunklen Augen erforschten ihr Gesicht. »Ich habe nie eine überzeugendere oder ergreifendere Darstellung gesehen als die von Mamoru.«
»Warum werden Frauenrollen nicht von Frauen gespielt?«
»Was für eine sonderbare Idee«, entgegnete er. »Sie glauben, Sie hätten mehr Authentizität, weil Sie sich vorstellen, dass diese Gefühle Ihnen vertraut sind. Aber gerade die Kunstfertigkeit des Schauspielers, Emotionen darzustellen, die er nicht genau kennen
Weitere Kostenlose Bücher