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Der Pfad im Schnee

Der Pfad im Schnee

Titel: Der Pfad im Schnee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lian Hearn
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er sich zu ihr neigte, und ahnte wieder den Hunger, nicht nach ihr, sondern danach, von ihrem Leid zu erfahren.
    »Ich kann nicht darüber sprechen«, sagte sie leise. Für ihre Geheimnisse würde sie ihn zahlen lassen. »Es ist zu schmerzlich.«
    »Ah.« Fujiwara schaute hinunter auf die Schale in seiner Hand. Kaede gestattete sich, ihn genau zu mustern, die Knochenstruktur seines Gesichts, den sinnlichen Mund, die langen, feingliedrigen Finger. Er stellte die Schale auf die Matte und sah zu Kaede auf. Bewusst hielt sie seinem Blick stand, ließ Tränen in ihre Augen steigen und schaute weg.
    »Vielleicht eines Tages…«, flüsterte sie.
    Mehrere Augenblicke saßen sie schweigend da, ohne sich zu rühren.
    »Sie faszinieren mich«, sagte er schließlich. »Das gelingt sehr wenigen Frauen. Lassen Sie mich Ihnen mein bescheidenes Heim zeigen, meine dürftige Sammlung.«
    Sie stellte die Schale auf den Boden und erhob sich anmutig. Er beobachtete jede ihrer Bewegungen, doch ohne das lüsterne Begehren anderer Männer. Kaede begriff, was Shizuka gemeint hatte. Wenn dieser Edelmann sie bewunderte, würde er sie in seine Sammlung aufnehmen. Welchen Preis würde er für sie zahlen und was könnte sie verlangen?
    Shizuka verneigte sich bis auf den Boden, als sie an ihr vorbeigingen, und der junge Mann trat aus den Schatten. Er war so zartknochig und zierlich wie ein Mädchen.
    »Mamoru«, sagte Fujiwara, »Lady Otori ist liebenswürdigerweise einverstanden, meine erbärmlichen Stücke zu betrachten. Komm mit uns.«
    Während sich der junge Mann vor ihr verbeugte, sagte Fujiwara: »Du solltest von ihr lernen. Studiere sie. Sie ist ein perfektes Vorbild.«
    Kaede folgte ihnen in die Mitte des Hauses, wo es einen Hof und einen Bühnenbereich gab.
    »Mamoru ist Schauspieler«, sagte Fujiwara. »Er spielt Frauenrollen. Ich lasse gern Dramen in diesem kleinen Raum aufführen.«
    Der Theaterraum war vielleicht nicht groß, aber vorzüglich geeignet. Schlichte Holzsäulen stützten das kunstvoll geschnitzte Dach und auf den Hintergrund war eine knorrige Kiefer gemalt.
    »Sie müssen kommen und eine Vorstellung anschauen«, sagte Fujiwara. »Wir beginnen bald mit den Proben zu Atsumori. Wir warten noch auf unseren Flötenspieler. Doch davor werden wir Das Schlagholz zeigen. Mamoru kann viel von Ihnen lernen und mich würde interessieren, wie Sie seine Darstellung beurteilen.«
    Als sie nichts sagte, fragte er: »Sind Sie mit Dramen vertraut?«
    »Ich habe ein paar Schauspiele gesehen, als ich bei Lord Noguchi lebte«, antwortete sie. »Aber ich weiß wenig darüber.«
    »Ihr Vater hat mir erzählt, dass Sie als Geisel bei den Noguchi waren.«
    »Seit ich sieben war.«
    »Was für erstaunliche Leben Frauen führen«, bemerkte er und es überlief sie kalt.
    Vom Theater gingen sie zu einem anderen Empfangsraum, der in einen kleineren Garten führte. Sonnenlicht strömte herein und Kaede war dankbar für die Wärme. Doch die Sonne stand schon tief über den Bergen. Bald würde sie hinter Gipfeln verborgen sein, deren zerklüftete Schatten dann das Tal bedeckten. Kaede konnte nichts gegen ihr Schaudern tun.
    »Bring eine Kohlenpfanne«, befahl Fujiwara. »Lady Otori friert.«
    Mamoru verschwand kurz und kam mit einem viel älteren Mann zurück, der eine kleine Kohlenpfanne mit glühender Holzkohle trug.
    »Setzen Sie sich daneben«, sagte Fujiwara. »Um diese Jahreszeit erkältet man sich leicht.«
    Mamoru ging wieder hinaus, schweigend wie zuvor, mit anmutigen, ergebenen und geräuschlosen Bewegungen. Als er zurückkehrte, hatte er einen kleinen Kasten aus Paulownienholz mitgebracht, den er behutsam auf den Boden stellte. Er verließ den Raum und kam drei weitere Male zurück, immer mit einem Kasten. Jeder war aus einem anderen Holz, aus Ulme, Zypresse, Kirschbaum und so poliert, dass Farbe und Maserung vom langen Leben des Baums erzählten, vom Hang, auf dem er gewachsen war, den Jahreszeiten mit Hitze und Kälte, Regen und Wind, die er ertragen hatte.
    Fujiwara öffnete einen Kasten nach dem anderen. Darin lagen Bündel, Gegenstände, die in mehrere Tuchlagen gehüllt waren. Schon diese Tücher waren schön, wenn auch offensichtlich sehr alt: Seiden der feinsten Webart und raffiniertesten Farbgebung. Doch was darin lag, übertraf alles, was Kaede je gesehen hatte. Fujiwara packte jedes Objekt aus, stellte es vor sie auf den Boden und forderte sie auf, es hochzunehmen, mit den Fingern zu liebkosen und an die Lippen oder die Stirn zu

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