Der Pfad im Schnee
spät entwickelt: Einige der Jungen, mit denen ich in Matsue trainiert hatte, zeigten schon mit acht oder neun Anzeichen von Talent. Wie würde das bei meinem Sohn sein? Wie lange würde es dauern, bis er geschickt genug war, mir entgegenzutreten? Vielleicht sechzehn Jahre; das war beinah meine ganze Lebenszeit. Diese nüchterne Rechnung ließ mir eine bittere Hoffnung.
Manchmal glaubte ich an die Prophezeiung und manchmal nicht, und so ist es mein Leben lang gewesen.
Morgen würde ich in Terayama sein. Ich würde Shigerus Aufzeichnungen über den Stamm bekommen, ich würde das Schwert Jato wieder in den Händen halten. Im Frühling würde ich zu Arai gehen. Mit meiner Geheiminformation über den Stamm bewaffnet würde ich seine Unterstützung gegen Shigerus Onkel fordern. Denn es lag für mich auf der Hand, dass ich mich zuerst mit ihnen auseinander setzen musste. Indem ich Shigerus Tod rächte und mein Erbe antrat, verschaffte ich mir, was ich am meisten brauchte: eine Machtbasis im uneinnehmbaren Hagi.
Jo-An schlief unruhig, er zuckte und wimmerte. Vermutlich litt er immer unter Schmerzen, doch wenn er wach war, ließ er sich das nicht anmerken. Gegen Morgen war es nicht mehr ganz so kalt und ich schlief etwa eine Stunde lang tief, doch als ich aufwachte, hatte ich ein zartes fedriges Geräusch in den Ohren, das ich fürchtete. Ich kroch zum Eingang. Im Feuerschein sah ich die Flocken fallen und hörte das leise Zischen, mit dem sie in der Glut schmolzen. Ich schüttelte Jo-An und weckte die Köhler.
»Es schneit!«
Sie sprangen auf, zündeten Äste als Fackeln an und lösten ihr Lager auf. Sie wollten ebenso wenig auf dem Berg gefangen sein wie ich. Die kostbare Holzkohle vom letzten Feuerschacht wurde in die feuchten Häute aus der Unterkunft gewickelt. Schnell beteten sie über der Glut des Feuers und legten sie in einen Eisentopf, um sie den Berg hinunterzutragen.
Der Schnee war noch fein und pudrig, er blieb kaum liegen, sondern schmolz, sowie er den Boden berührte. Doch als der Tag anbrach, sahen wir, dass am bedrohlich grauen Himmel die Wolken schwer und voller Schnee waren. Auch der Wind nahm zu; als Nächstes war wohl ein Schneesturm zu erwarten.
Uns blieb keine Zeit zum Essen, noch nicht einmal zum Teetrinken. Sobald alle Holzkohle verpackt war, wollten die Männer weg. Jo-An fiel vor mir auf die Knie, aber ich hob ihn auf und umarmte ihn. Sein Körper in meinen Armen war so knochig und gebrechlich wie der eines alten Mannes.
Ich sagte: »Im Frühling werden wir uns wiedersehen. Ich schicke dir eine Nachricht zur Brücke der Ausgestoßenen.«
Er nickte und wurde plötzlich von Gefühlen überwältigt, als könnte er es nicht ertragen, mich gehen zu lassen. Einer der Männer nahm ein Bündel und legte es ihm auf die Schultern. Die anderen gingen bereits hintereinander den Hang hinunter. Jo-An machte eine unbeholfene Geste in meine Richtung, eine Mischung aus Abschied und Segen. Dann drehte er sich um, schwankte ein wenig unter dem Gewicht seiner Last und ging davon.
Ich schaute ihm einen Augenblick nach und wiederholte leise die vertrauten Worte der Verborgenen, wenn sie sich trennen.
»Kommen Sie, Herr«, rief mein Führer besorgt und ich wandte mich um und folgte ihm den Berg hinauf.
Wir kletterten etwa drei Stunden lang. Mein Führer hielt nur an, um hin und wieder Zweige umzubiegen und so den Rückweg zu markieren. Der Schnee blieb der gleiche, leicht und trocken, aber je höher wir kletterten, umso mehr blieb liegen, bis Boden und Bäume dünn bepudert waren. Mir war warm von dem raschen Anstieg, doch mein Magen knurrte vor Hunger. Das Fleisch am Abend zuvor hatte in ihm falsche Erwartungen geweckt. Die Uhrzeit war unmöglich zu erraten. Der Himmel war einheitlich braungrau und vom Boden kam das unheimliche, desorientierende Licht einer beschneiten Landschaft.
Als mein Führer stehen blieb, hatten wir den Hauptgipfel der Bergkette zur Hälfte erklommen. Unser Pfad schlängelte sich jetzt abwärts. Ich konnte durch den Schleier fallender Flocken das Tal unten sehen, die dicken Äste der Buchen und Zedern wurden schon weiß.
»Kann nicht weiter mit Ihnen gehen«, sagte der Mann. »Mein Rat ist, kehren Sie jetzt um mit mir. Ein Schneesturm kommt. Bis zum Tempel braucht man noch fast einen Tag, selbst wenn das Wetter gut ist. Wenn Sie weitergehen, kommen Sie im Schnee um.«
»Ich kann unmöglich zurückgehen«, entgegnete ich.
»Begleite mich noch ein Stück. Ich bezahle dich gut
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