Der Pfad im Schnee
dafür.« Aber ich konnte ihn nicht überreden, eigentlich wollte ich es auch nicht. Er wirkte unsicher und verloren ohne seine Gefährten. Ich gab ihm trotzdem die Hälfte der Münzen, die ich noch besaß, und er gab mir dafür einen Beinknochen des Hasen, an dem ordentlich Fleisch hing.
Er beschrieb den Weg, den ich nehmen musste, und zeigte mir die Orientierungspunkte jenseits des Tals, so weit es in dem trüben Licht möglich war. Er sagte, ein Fluss durchquere die Senke; er wusste nicht, dass ich den Wasserlauf schon längst gehört hatte. Er markierte die Grenze des Lehens. Es gab keine Brücke, aber an einer Stelle war er so schmal, dass man hinüberspringen konnte. In den Teichen darunter lebten Wassergeister, die Strömung war stark, deshalb sollte ich Acht geben, dass ich nicht hineinfiel. Und weil hier die beste Möglichkeit zum Überqueren war, zogen manchmal Patrouillen durch, doch mein Führer hielt das an einem Tag wie diesem nicht für wahrscheinlich.
Im nächsten Lehnsgut sollte ich weiter nach Osten wandern und zu einem kleinen Schrein hinuntergehen. Hier gabelten sich die Wege. Ich musste den rechten, unteren Pfad nehmen und weiter die östliche Richtung beibehalten, sonst würde ich auf die Bergkette steigen. Der Wind kam jetzt aus Nordosten, er wehte mir also gegen die linke Schulter. Der Führer berührte zweimal die Schulter, um das zu betonen, und schaute mir mit seinen schmalen Augen ins Gesicht.
»Sie sehen nicht wie ein Lord aus«, sagte er und verzerrte die Lippen zu einer Art Lächeln. »Aber trotzdem viel Glück.«
Ich dankte ihm und zog los, den Hang hinunter, wobei ich an dem Knochen nagte, ihn mit den Zähnen aufbrach und das Mark heraussaugte. Der Schnee wurde etwas nasser und dichter, er schmolz langsamer auf meinem Kopf und den Kleidern. Der Mann hatte Recht, ich sah nicht aus wie ein Lord. Mein Haar, das nicht mehr geschnitten worden war, seit Yuki es zu einer Schauspielerfrisur gekürzt hatte, hing struppig über die Ohren und ich hatte mich seit Tagen nicht rasiert. Meine Kleider waren durchnässt und schmutzig. Bestimmt roch ich auch nicht wie ein Lord. Ich versuchte mich zu erinnern, wann ich zum letzten Mal gebadet hatte - und plötzlich fiel mir das Ringerlager ein und unsere erste Nacht außerhalb von Matsue: das große Badehaus, das Gespräch zwischen Akio und Hajime, das ich mitgehört hatte.
Ich fragte mich, wo Yuki jetzt sein mochte, ob sie von meiner Flucht wusste. An das Kind zu denken konnte ich kaum ertragen. Im Licht der Prophezeiung war die Vorstellung, dass mein Sohn von mir fern gehalten wurde und lernte, mich zu hassen, noch viel schmerzlicher. Ich erinnerte mich an Akios spöttische Bemerkungen; offenbar kannten die Kikuta meinen Charakter besser als ich selbst.
Das Rauschen des Flusses wurde lauter, es war fast das einzige Geräusch in der beschneiten Landschaft. Selbst die Krähen schwiegen. Der Schnee bedeckte schon die Findlinge am Ufer, als ich in Sichtweite kam.
Der Fluss fiel ein Stück weiter oben am Berg in einem Wasserfall herab, dann breitete er sich zwischen steilen Klippen aus und stürzte in einer Reihe von Stromschnellen über Steine, bevor er in einen engen Kanal zwischen zwei flache Felsnasen gezwängt wurde. Alte knorrige Kiefern klammerten sich an die Seite der Klippen, und die ganze Landschaft, weiß vom Schnee, sah aus, als warte sie auf Sesshu, der kommen und sie malen würde.
Ich duckte mich hinter einen Felsen, wo eine kleine Kiefer sich unsicher in die dünne Erde krallte. Sie war mehr ein Busch als ein Baum und bot mir ein wenig Schutz. Der Schnee bedeckte den Pfad, aber ich konnte gut sehen, wohin der Weg führte und wo ich über den Fluss springen sollte. Eine Zeit lang betrachtete ich die Stelle und horchte aufmerksam.
Das Klangmuster des Wassers über den Steinen war nicht ganz gleichmäßig. Immer wieder versank es in eine unheimliche Stille, als wäre ich nicht das einzige lauschende Geschöpf. Man konnte sich leicht vorstellen, dass Geister unter dem Wasser wohnten, die Strömung anhielten und fließen ließen und so die Menschen neckten, reizten und ans Ufer lockten.
Ich glaubte die Geister sogar atmen zu hören. Dann, gerade als ich das Geräusch von anderen abgetrennt hatte, fing das Raunen und Plätschern des Flusses wieder an. Es war zu ärgerlich. Ich wusste, dass ich Zeit verschwendete, wenn ich in einem Busch hockte, allmählich zugeschneit wurde und den Geistern zuhörte, aber langsam wuchs in mir die
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