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Der Pfad im Schnee

Der Pfad im Schnee

Titel: Der Pfad im Schnee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lian Hearn
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gehen dürfen. Wenn wir dort einen Baum fällen würden…« Anschaulich machte er eine Gebärde des Halsabschneidens.
    »Ein Kopf für einen Baum, eine Hand für einen Ast«, sagte ein anderer. Er griff hinüber zu dem Riesen und hielt dessen verstümmelten Arm hoch. Der Stumpf war mit einer runzligen, bläulichen Narbe verheilt, graue Streifen liefen den Arm hinauf, wo die Wunde ausgebrannt worden war. »Beamte vom Clan der Tohan haben das vor zwei Jahren getan. Er hat es nicht verstanden, aber sie haben ihm trotzdem die Hand abgeschnitten.«
    Der Riese streckte sie mir entgegen und nickte mehrmals mit verwirrtem und kummervollem Gesicht.
    Ich wusste, dass auch der Clan der Otori Gesetze hatte, die das wahllose Fällen von Bäumen verboten. Damit sollten die Wälder für immer geschützt werden, aber ich glaubte nicht, dass die Otori so harte Strafen verhängten. Was half es, einen Mann halb zu verkrüppeln? War ein Menschenleben wirklich weniger wert als ein Baum?
    »Lord Otori wird alle diese Ländereien zurückverlangen«, sagte Jo-An. »Er wird von Meer zu Meer regieren. Er wird Gerechtigkeit bringen.«
    Sie verbeugten sich wieder, schworen, dass sie mir dienen würden, und ich versprach, alles, was ich konnte, für sie zu tun, wenn der Tag kam. Dann gaben sie uns zu essen - Fleisch: kleine Vögel, die sie gefangen hatten, und einen Hasen. Ich aß Fleisch so selten, dass ich mich nicht erinnern konnte, wann ich es das letzte Mal gekostet hatte, abgesehen vom Hühnereintopf der Ringer. Doch der hatte fade geschmeckt im Vergleich zu dem Hasen. Den hatten sie vor einer Woche gefangen und für ihre letzte Nacht auf dem Berg aufgehoben, wobei sie ihn vergraben hatten, damit kein Clanbeamter, der vielleicht im Lager herumspionierte, ihn sah. Der Hase schmeckte nach Erde und Blut.
    Während wir aßen, besprachen sie ihre Pläne für den nächsten Tag. Sie beschlossen, dass einer von ihnen mir den Weg zur Grenze zeigen sollte. Sie selbst wagten nicht, sie zu überqueren, doch der Weg hinunter nach Terayama war ihrer Meinung nach einfach genug. Wir würden beim ersten Tageslicht aufbrechen und ich sollte nicht mehr als zwölf Stunden dazu brauchen, wenn es nicht schneite.
    Der Wind hatte sich leicht gedreht, er kam von Norden und war bedrohlich rau. Die Köhler hatten schon geplant, den letzten Meiler an diesem Abend abzubauen und am nächsten Tag den Abstieg zu beginnen. Jo-An konnte ihnen helfen, wenn er über Nacht blieb und für den Mann einsprang, der mich führen würde.
    »Haben sie nichts dagegen, mit dir zu arbeiten?«, fragte ich später Jo-An. Die Köhler erstaunten mich. Sie aßen Fleisch, befolgten also nicht die Lehren des Erleuchteten, sie beteten nicht über ihrer Mahlzeit wie die Verborgenen und sie akzeptierten es im Gegensatz zu den Dorfbewohnern, dass der Ausgestoßene mit ihnen aß und arbeitete.
    »Sie sind auch Ausgestoßene«, antwortete er. »Sie verbrennen Leichen ebenso wie Holz. Aber sie gehören nicht zu den Verborgenen. Sie verehren die Waldgeister, besonders den Gott des Feuers. Sie glauben, dass er morgen mit ihnen den Berg hinuntersteigt und den ganzen Winter über bei ihnen wohnt und ihre Häuser warm hält. Im Frühling begleiten sie ihn zurück auf den Berg.« Jo-An klang missbilligend. »Ich versuche ihnen vom Geheimen Gott zu erzählen, aber sie sagen, sie können den Gott ihrer Vorfahren nicht verlassen, denn wer würde dann die Feuerschächte anzünden?«
    »Vielleicht ist alles eins.« Ich zog ihn ein wenig auf, das Fleisch und die Wärme, für die der Feuergott sorgte, hatten mich in gute Laune versetzt.
    Er antwortete nur mit seinem schwachen Lächeln. Plötzlich sah er erschöpft aus. Es war fast dunkel, und die Köhler luden uns in ihre Unterkunft ein, die grob aus Ästen erbaut und mit Häuten bedeckt war, die sie vermutlich gegen Kohle von den Gerbern eingetauscht hatten. Wir krochen mit den Männern hinein, alle drängten sich zum Schutz vor der Kälte aneinander. Mein Kopf war dem Schacht am nächsten und angenehm warm, doch mein Rücken war eiskalt und wenn ich mich umdrehte, fürchtete ich, meine Lider würden zufrieren.
    Ich schlief nicht viel, sondern horchte auf das tiefe Atmen der Männer um mich herum und dachte an meine Zukunft. Ich hatte geglaubt, mich dem Todesurteil des Stammes ausgesetzt zu haben, und täglich kaum damit gerechnet, den Abend zu erleben, doch die Wahrsagerin hatte mir das Leben zurückgegeben. Meine eigenen Fähigkeiten hatten sich erst relativ

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