Der Pfahl - Laymon, R: Pfahl - Stake
mit Gedanken an Kramer. Nach einer Weile legte sie das Buch zur Seite. Sie kuschelte sich unter die Decke.
Sie wünschte, sie hätte die Probleme ihres Vaters. Er weiß gar nicht, was er für ein Glück hat, dachte sie. Es wäre so schön, wenn die größte Sorge in ihrem Leben die Frage wäre, ob sie ein Stück Holz aus einer Leiche ziehen sollte oder nicht.
Ihr Vater hatte gesagt, das Mädchen – Bonnie? – wäre Ballkönigin gewesen. Sie musste sehr schön gewesen sein. Vielleicht genau Kramers Typ.
Im Halbschlaf stellte sich Lane vor, sie würde alle ihre Freunde zusammenrufen: Betty und Henry und George und Riley. Ich brauche eure Hilfe , teilte sie ihnen mit. Sie erläuterte ihren Plan, und alle waren begeistert dabei. Also schlichen sie sich in die Garage und stahlen die Leiche. Sie banden den Sarg auf dem Dach ihres Mustangs fest und fuhren durch die nächtliche Stadt zu Kramers Haus. Sein Kombi stand nicht vor der Tür. Er war noch auf seinem Boot. Während ihre Freunde auf der Treppe zur Haustür warteten, brach Lane auf der Rückseite ein Fenster auf und kletterte ins Haus. Sie öffnete die Tür, und gemeinsam trugen sie den Sarg ins Haus. Im Schlafzimmer stellten sie ihn ab. Sie hoben die Leiche auf das Bett und versteckten den Sarg in einem Wandschrank.
Lane bot sich an, den Pfahl herauszuziehen. Ich habe keine Angst , sagte sie. Und das stimmte auch. Sie hatte keine Angst vor Bonnie. Bonnie war nicht ihr Feind. Sie war ihre Verbündete, ihre Waffe. Lane zog den Pfahl aus der Brust des Mädchens. Das Loch schmolz zu. Der Leichnam begann anzuschwellen wie eine Gummipuppe, die jemand aufblies. Die trockene, ledrige Haut gewann den Glanz des Lebens zurück. Nur ein paar Blutergüsse verunstalteten sie.
Lane erschrak, als sie feststellte, dass Bonnie aussah wie ihr Zwilling. Nein, dachte sie, das ist kein Zwilling. Das bin ich. Das ist ja besser, als ich zu hoffen wagte. Kramer wird denken, dass ich zu ihm gekommen bin.
Die Lane auf Kramers Bett schlug die Augen auf. Mach dir keine Sorgen , sagte sie. Ich kümmere mich um ihn.
Lane wachte mit dem Gefühl auf, eine furchtbare Last wäre ihr abgenommen worden. Sie wusste zwar nicht warum, aber sie fühlte sich gut. Dann erinnerte sie sich an den seltsamen Plan, den sie im Halbschlaf geschmiedet hatte. Es war nur eine Fantasie gewesen. Nichts hatte sich geändert. Ihr Mut sank, und die Furcht nistete sich wieder in ihrer Magenhöhle ein.
Sie sah auf die Uhr neben dem Bett. Fast eins.
Sie hatte lange geschlafen und war froh darüber. Wenn sie doch nur einfach immer weiterschlafen könnte.
Aber sie hatte Hunger. Deshalb stand sie auf, zog Morgenmantel und Hausschuhe an und ging aus ihrem Zimmer.
Das Haus schien verlassen zu sein.
Aber die Tür zum Arbeitszimmer ihres Vaters war geschlossen. Sie klopfte. Als sie die Tür öffnete, erhaschte sie einen Blick auf eine Seite mit Schwarz-Weiß-Fotos in einem Ordner, den ihr Vater gerade zuschlug. Er lächelte sie an, doch er wirkte erschrocken, und sein Gesicht war gerötet.
Sie fragte sich, was er sich gerade angesehen hatte. Was auch immer es war, er schien sich dafür zu schämen. Sie beschloss, ihn nicht danach zu fragen. »Entschuldige die Störung«, sagte sie.
»Kein Problem. Geht es dir schon besser?«
»Ein bisschen. Und ich habe Hunger. Habt ihr schon gegessen?«
»Ja. Wir haben vor einer Stunde zu Mittag gegessen. Soll ich dir etwas machen?«
»Nein, lass nur. Das kann ich selbst. Wo ist Mom?«
»Sie ist einkaufen gefahren. Wir haben beschlossen, Pete und Barbara zum Abendessen einzuladen, deshalb muss sie ein paar Sachen besorgen.«
»Hat sich Barbara erholt?«
»Offenbar. Deine Mutter ist bei ihr vorbeigegangen. Barbara scheint sich ein bisschen für ihren Unfall zu schämen, aber sie ist entschlossen, das Abenteuer fortzusetzen. Pete hat schon eine neue Videokamera gekauft.«
»Hoffentlich macht Barbara die nicht auch noch kaputt.«
»Sie wird sie vermutlich nicht in die Finger bekommen.«
»Wenn Pete schlau ist. Wann kommen sie rüber?«
»Gegen sechs.«
»Falls ich im Bett bin, wecke mich auf jeden Fall. Ich will nichts verpassen.«
»Bist du dir sicher?«
»Absolut. Bis später.« Sie schloss die Tür und ging in die Küche.
Während sie sich ein Käsesandwich grillte, dachte sie an den Ordner zurück, den ihr Vater vorhin so schnell zugeschlagen hatte. Sie versuchte, sich zu erinnern, wie das Papier darin ausgesehen hatte. Glänzend, mit zwei oder drei Fotos
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