Der Pfeil der Rache
vielleicht eine Viertelmeile entfernt. Es verfügte über ein langes, hohes Heckkastell und ein noch höheres Bugkastell, aus dem ein über fünfzig Fuß langer Bugspriet hervorragte. An seiner Unterseite war ein großer, kreisrunder Gegenstand befestigt, leuchtend bemalt in konzentrischen roten und weißen Kreisen. »Eine Rose«, sagte David. »Das ist die
Mary Rose
.«
»Das Lieblingsschiff des Königs«, sagte Hugh. »Könnten wir doch sehen, wie es die Segel setzt. Es muss berückend sein.«
Auf dem Heckkastell der
Mary Rose
bemerkte ich einen Käfig aus einem netzartigen Geflecht, der von hölzernen Streben gehalten wurde. Ich fragte mich, was das wohl sein mochte.
Dyrick deutete auf etwas, das ganz in der Nähe aus dem Watt ragte und wie das Gerippe eines riesigen Tieres anmutete. »Was ist das?«, fragte er Hobbey.
»Das Wrack eines Schiffes, das hier auf Grund gelaufen ist. Diese Sandbänke sind trügerisch, die großen Kriegsschiffe müssen auf der Hut sein im Hafen. Deshalb sind auch die meisten draußen auf See.« Er schüttelte den Kopf. »Falls die Franzosen kommen, wird es schwierig, vielleicht gar unmöglich, all unsere Schiffe in den Hafen hereinzuholen. Vor Anker brauchen sie angeblich zweihundert Schritt, um zu wenden.«
»Nur einen Pfeilschuss voneinander entfernt«, stellte Hugh fest.
»Wahrscheinlich ragen hier in einigen Wochen noch mehr Gerippe aus dem Meer«, bemerkte Feaveryear düster.
»Ihr seid mir eine Frohnatur!«, sagte Barak.
»Treibt Ihr nur Eure Scherze!«, versetzte Feaveryear unwirsch, »aber der Krieg ist gottlos, und Gott bestraft die Gottlosen.«
»Nein«, widersprach Hugh. »Unsere Schiffe vertreiben die Franzosen, wie es Heinrich der Fünfte tat. Seht sie doch an – sind sie nicht wahre Wunder? Wenn die Franzosen uns zu nah kommen, werden wir sie entern und vernichten. Ich wünschte nur, ich könnte dabei sein.«
»Könnt Ihr denn schwimmen?«, fragte ich.
»Ich schon«, antwortete David stolz.
Hugh dagegen schüttelte den Kopf. »Ich habe es nie gelernt. Aber angeblich können die wenigsten Seeleute schwimmen. Die meisten würden ohnehin vom Gewicht ihrer Kleider in die Tiefe gezogen.«
Ich sah ihn an. »Macht der Gedanke Euch denn keine Angst?«
Er starrte mit dem üblichen leeren Blick zurück. »Nicht die geringste.«
»Das Herzkreuz, das er trägt, beschützt ihn doch«, sagte David, einen Hauch Spott in der Stimme.
»Wie das?«
»Es bewahrt angeblich einen Hirsch davor, aus Angst zu sterben«, erklärte Hobbey müde.
»Vielleicht ist dem auch so«, meinte Hugh.
Ich blickte zu Hobbey hinüber, der zweifelnd die Augenbrauen hob. In dieser Angelegenheit jedenfalls waren wir uns einig.
* * *
Wir ritten hinauf zur Stadtmauer und reihten uns in einer Schlange von Fuhrwerken ein, die darauf warteten, eingelassen zu werden. Vor den Toren der Stadt war ein Galgen errichtet worden, an dem ein Gehenkter baumelte. Auf einem leicht erhöhten Fleck Erde zwischen der Straße und einem der großen Teiche, die die Stadt säumten, befand sich ein weiteres Soldatenlager, das aus nahezu hundert kegelförmigen Zelten bestand. Davor saßen Männer. Einer von ihnen flickte auf Knien seine Brigantine, den plattenverstärkten Panzerrock, welcher vor ihm auf dem Boden lag. In einiger Entfernung zum Ufer war die Luft wieder schwül: die meisten Männer hatten die Wämser abgelegt und saßen in den Hemden da. Eine kleine Gruppe jedoch trug kurze weiße Mäntel, auf deren Rücken zwei rote Kreuze eingestickt waren; irgendein Dorf hatte sich offenbar eine eigenwillige Version der offiziellen Tracht ausgedacht.
Hugh und David wurden von einem Geschehen angezogen, das mir inzwischen ganz vertraut war: Ein paar hundert Schritt entfernt waren Zielhügel aufgeworfen worden, und einige Soldaten übten sich mit ihren Langbogen im Schießen, indem sie auf Austernschalen zielten.
»Kommt weiter«, mahnte Hobbey, und widerstrebend wandten die Burschen sich ab.
Wir näherten uns der Stadtmauer. Sie war dreißig Fuß hoch, umgeben von einer Art Burggraben und zu meinem Erstaunen nicht etwa aus Stein, sondern aus gepresstem Lehm gebaut. Nur die kleinen, krenelierten Zinnen ganz oben und die großen Bastionen, die in regelmäßigen Abständen aufgesetzt waren, bestanden aus Stein. Auf den Mauern waren mehrere Arbeiter zugange, die, an Seilen hängend, neue Lehmschichten auftürmten und sie mit Gitterwerk und Holzplanken befestigten. Die Bastion, die das Haupttor umschloss, war aus
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