Der Pfeil der Rache
ihrer Verzweiflung genötigt, dies zu glauben?, fragte ich mich, hatte sich ihr Schmerz womöglich in Zorn verwandelt?
»Zeige Master Shardlake den richterlichen Beschluss«, sagte die Königin.
Bess griff in ihr Kleid und förderte ein großes Dokument zutage, das mehrmals gefaltet war. Sie reichte es mir. Es war eine Anweisung des Court of Wards an sämtliche Beteiligten in der Vormundschaftssache, die den jungen Hugh William Curteys betraf, sich am neunundzwanzigsten Juli, also in fünf Tagen, vor Gericht einzufinden. Das Schreiben war an Michael Calfhill adressiert, den Kläger – offensichtlich wusste man noch nicht, dass er mittlerweile verstorben war. Eine Kopie war, wie ich feststellen konnte, auch an Vincent Dyrick ergangen. Vor nahezu drei Wochen, wie das Datum besagte.
»Ich erhielt das Schreiben erst vorige Woche«, sagte Bess. »Man hatte es zuvor an die Anschrift meines Sohnes geschickt. Von dort aus erreichte es den Untersuchungsrichter, der es schließlich an mich weitergab, als Michaels nächste Verwandte.«
»Habt Ihr eine Abschrift von Michaels Klage gesehen? Ich muss wissen, worauf sie gründete.«
»Nein, Sir. Ich weiß nur, was ich Euch erzählt habe.«
Ich sah Bess und die Königin an und beschloss, ihnen ohne Umschweife zu sagen, was ich von der Sache hielt. »Was auch immer die Anklageschrift beinhaltet, sie basiert auf Fakten, von welchen Michael Kenntnis erhalten hatte. Aber Michael ist nun tot, und ohne seine Zeugenaussage will das Gericht den Fall vielleicht nicht weiterverfolgen.«
»Ich bin nicht bewandert in juristischen Dingen«, sagte Bess, »weiß nur, was meinem Sohn widerfahren ist.«
»Ich war der Meinung, dass sämtliche Gerichtsverfahren wegen des Krieges vertagt worden seien«, sagte die Königin.
»Nur nicht jene am Vormundschaftsgericht und am Court of Augmentations.« Die gewinnbringenden Gerichtshöfe würden den gesamten Sommer über tagen. Die Richter dort waren hartherzige Männer. Ich wandte mich der Königin zu. »Sir William Paulet ist der Oberste Richter des Court of Wards. Ich frage mich, ob er selbst die Urteile fällt oder angesichts des Krieges andere Pflichten hat. Er ist seit langem Mitglied im Kronrat.«
»Ich habe Master Warner gefragt. Sir William begibt sich demnächst als Statthalter nach Portsmouth, wird aber nächste Woche Gericht halten.«
»Wird man Master Hobbey vorladen?«, fragte Bess.
»Vermutlich wird er bei der ersten Anhörung durch Dyrick vertreten. Wie der Gerichtshof mit Michaels Klage verfahren wird, dürfte von deren Inhalt abhängen. Und von der Frage, ob wir Zeugen finden, die uns weiterhelfen. Ihr habt erwähnt, dass Michael, als Master Hobbey sich um die Vormundschaft bemühte, die Hilfe eines Geistlichen in Anspruch nahm.«
»O ja. Master Broughton. Ein braver Mann, sagte Michael.«
»Wisst Ihr, ob Michael ihn vor kurzem aufgesucht hat?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe ihn das auch gefragt. Er sagte nein.«
»Wusste noch jemand von dieser Anklageschrift?«, fragte ich. »Einer von Michaels Freunden vielleicht?«
»Er war fremd in London, hatte niemanden hier. Nur mich«, fügte sie traurig hinzu.
»Könnt Ihr das herausfinden?«, fragte mich die Königin. »Bess zuliebe?«
Ich zögerte. Das Einzige, was ich hier sah, war ein Knäuel aus leidenschaftlichen Gefühlsverstrickungen. Zwischen der Königin und Bess, zwischen Bess und Michael, Michael und jenen Kindern. Es gab weder Fakten noch Beweise, vielleicht nicht einmal einen Fall. Ich wandte mich der Königin zu. Sie bat mich, ihrer alten Magd zu helfen. Ich dachte an den jungen Hugh im Mittelpunkt der Ereignisse, für mich zwar nur ein Name, aber allein und schutzlos.
»Also gut«, sagte ich. »Ich will mein Möglichstes tun.«
kapitel vier
E ine Stunde später verließ ich die Königin, Michaels Abschiedsnotiz und den richterlichen Beschluss in der Tasche. Ich hatte mit Mistress Calfhill vereinbart, sie solle mich am Ende der Woche aufsuchen, damit ich ihre Aussage zu Papier bringen konnte.
Warner wartete im Audienzsaal auf mich. Er führte mich eine Wendeltreppe hinauf in seine Amtsstube, deren Aktenschränke überquollen von Dokumenten und Pergamenten, die mit rosafarbenen Bändern zusammengehalten waren.
»Ihr werdet den Fall also übernehmen?«, fragte er.
Ich lächelte. »Ich kann der Königin nicht widerstehen.«
»Ich ebenso wenig. Sie hat mich gebeten, an John Sewster zu schreiben, den Prozessanwalt am Vormundschaftsgericht. Ich solle ihm
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