Der Pfeil der Rache
ein Löffel, eine Kappe – die Männer waren überstürzt aufgebrochen.
Als ich mich den Stadtmauern näherte, wo sich noch immer Männer abmühten, die Befestigungen zu stärken, passierte ich eine weitere Schar Flüchtlinge, die auf die Brücke zutrotteten, unter ihnen auch eine Gruppe Dirnen, die angemalten Gesichter voller Streifen und Staub. Dann musste ich erneut zum Straßenrand ausweichen, um einen weiteren Trupp Soldaten passieren zu lassen. Fremde Söldner diesmal, in bunten geschlitzten Wämsern, die auf Deutsch miteinander redeten. Ich warf einen Blick auf die Flotte: Die Schiffe lagen noch immer vor Anker, darunter die
Great Harry
und die
Mary Rose
; eine halbe Meile weit entfernt trieb die
Galley Subtle
mitsamt den Galeassen zwischen den Kriegsschiffen und den mächtigen französischen Galeeren. Waren Leacon und seine Kompanie bereits an Bord der
Great Harry
?, fragte ich mich. Eine dunkle Rauchwolke stieg aus dem Bug einer französischen Galeere, gefolgt von einem fernen Dröhnen. Eine englische Galeasse hatte das Feuer erwidert.
Ich langte bei den Zelten an, die sich vor der Stadt befanden. Wie ich befürchtet hatte, waren sie leer. Als ich die Mauern emporblickte, sah ich, dass die Soldaten auf dem Wehrgang mir den Rücken zukehrten und stattdessen die Vorgänge auf See beobachteten; die Stadtmauer blockierte mir die Sicht. Ich lenkte Oddleg auf die Zelte zu in der Hoffnung, von einem Wachsoldaten Auskunft zu erhalten, sah aber niemanden. Es war seltsam, zwischen den Zelten hindurchzureiten und keinen Lärm zu hören, kein Geschrei, kein Klappern von Geschirr. Die Zelte von Leacons Truppe waren wie die übrigen leer. Ich war schon im Begriff, zurückzureiten, als ich eine Stimme hörte, die schwach meinen Namen rief.
»Anwalt Shardlake! Hier herüber!«
Ich folgte der Stimme zu einem Zelt, aus dem es stank wie aus einer Jauchgrube. Zögernd blickte ich hinein. Im Zwielicht gewahrte ich verstreut auf dem Boden Schüsseln und Kleidung. In einer Ecke lag ein Mann, halb unter einer Decke. Es war Sulyard, der Rüpel, der noch in der Nacht zuvor den Mund so voll genommen hatte. Sein hässliches, knochiges Gesicht war kreidebleich.
»Ihr seid es doch«, sagte er. »Ich glaubte schon, ich hätte einen bösen Traum.«
»Sulyard? Was fehlt Euch denn?«
»Das Bier gestern war schlecht. Heute Morgen, auf dem Weg nach Portsmouth, wurden vier von uns, durchfallkrank, zurückgeschickt.« Er grinste ein wenig, und ich sah, dass er froh war.
»Wo ist der Rest der Kompanie?«
»Auf der
Great Harry
. Hört her, könnt Ihr mir etwas zu trinken holen? Im Zelt mit der grünen Flagge ist Bier.«
Ich hatte das besagte Zelt alsbald gefunden. Einige Fässer Bier standen hier bereit, dazu Trinkgefäße. Ich füllte einen Humpen und brachte ihn Sulyard. Er trank in gierigen Zügen und maß mich dann mit einem belustigten, berechnenden Blick. »Seid Ihr des Jungen wegen hier?«
»Wen meint Ihr?«, fragte ich neugierig. »Hugh Curteys?«
»Der Bursche, der bei Euch war, als Ihr das erste Mal hergekommen seid, der treffliche Schütze.«
»Habt Ihr ihn gesehen? So sprecht doch!«
»Wir sollten heute Morgen auf unser Schiffe gehen, aber der König besah sich gerade die
Great Harry
, und so wollte man uns erst an Bord holen, wenn er zur
Mary Rose
hinübergewechselt wäre. Wir warteten also auf dem Kai, als Euer Bursche angerannt kam. Schwitzend und voller Staub, den Bogen geschultert. Er erkannte unseren Hauptmann und fragte, ob er sich der Kompanie anschließen dürfte. Mittlerweile hockten vier von uns an einer Mauer und schissen, was das Zeug hielt, und die Kompanie ist ohnehin geschrumpft. Also nahm Hauptmann Leacon ihn auf und schickte die Kranken hierher ins Lager zurück.«
»Ich muss den Jungen finden.«
»Dann viel Vergnügen. Kurz darauf gab’s einen großen Tumult, und die Barkasse des Königs kehrte eiligst zurück an Land. Da kommt auch schon die französische Flotte um die Insel Wight gefahren.« Mit Mühe stützte Sulyard sich auf die Ellbogen. »Wisst Ihr, was seither geschehen ist? Sind die Franzosen schon gelandet?« Mir dämmerte allmählich der Grund für seine ungewohnte Höflichkeit. Er hatte nicht nur Durst, er hatte Angst, die Franzosen würden kommen und ihn in seinem Zelt abschlachten.
»Nein. Sie liefern sich mit unseren Schiffen ein Gefecht draußen auf See. Hört zu, ist der Junge inzwischen an Bord der
Great Harry
?«
»Sieht ganz danach aus.«
»Ich muss ihn finden. Ich muss in die
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