Der Pfeil der Rache
ein. Auf seinem Waffenrock prangten die Lettern RR . Rich wies auf den Kerzenhalter, und der Knecht entzündete die Kerzen, die das Zelt mit gelbem Licht erfüllten. »Was gibt es?«, fragte Rich.
»Die Franzosen sind fort.«
»Die Soldaten bleiben an Bord heute Nacht?«
»Jawohl, Sir. Sie müssen sich wappnen. Im ersten Morgenlicht wird zum Gegenangriff geblasen. Sir, ein Bote ist gekommen. Der Kronrat versammelt sich in einer Stunde im Zelt des Königs.«
»Beim Blute Gottes!«, wies Rich ihn barsch zurecht, »warum sagst du das nicht gleich?«
Der Mann errötete. »Ich –«
»Nachrichten aus dem Kronrat müssen unverzüglich weitergegeben werden – wie oft muss ich dir das noch sagen? Hinaus mit dir! Aber bleib gefälligst in der Nähe, falls ich nach dir läute.«
»Sehr wohl, Sir.« Er verneigte sich und ging. Rich schüttelte den Kopf. »Peel ist ein Trottel«, sagte er, »aber es kann zuweilen nützlich sein, wenn man sich mit Leuten umgibt, die wenig begreifen und einen fürchten.« Der Ärger in seinen Zügen wich dem gewohnten verächtlichen Grinsen. Doch es kostete ihn sichtlich Mühe.
»Und nun, Master Shardlake, will ich Euch meinen Vorschlag unterbreiten. Ein Brief von mir an Philip West verschafft Euch Zutritt zur
Mary Rose
. Dort könnt Ihr Eurem Freund Leacon meinethalben mitteilen, dass der Knabe, den er heute rekrutiert hat, in Wahrheit ein Mädchen ist, und dieses an Land holen. Mein Diener wird Euch in einem Boot hinaus- und wieder zurückrudern. Als Gegenleistung sagt Ihr zu niemandem ein Wort, was vor neunzehn Jahren in Rolfswood geschah. Im Übrigen ist Philip West derjenige, der seit all den Jahren die Gebühren im Bedlam begleicht.«
»Das hatte ich schon vermutet.«
»Ihr könnt die Kosten selbst übernehmen, wenn Ihr wollt, es ist mir gleich.«
»Ihr habt sie all die Jahre am Leben gelassen? Und wenn sie Euch verraten hätte –«
»Sie kannte meinen Namen nicht. Und West drohte, mich auffliegen zu lassen, sollte ihr etwas zustoßen.« Wieder zuckte Sir Richards Augenlid, und er blinzelte ärgerlich. »Nun, Bruder Shardlake, was meint Ihr? Morgen kommt es wahrscheinlich zum Gefecht, spätestens übermorgen.«
»Ich muss jetzt die ganze Geschichte wissen«, versetzte ich mit ruhiger Stimme. Ich brauchte auch Zeit zum Nachdenken.
»Muss das wirklich sein?«, keifte er unwirsch.
»Ich meine schon«, antwortete ich. »Wests Mutter sprach von einem Brief des Königs an Anne Boleyn, den ihr Sohn an jenem Tag hätte überbringen sollen.«
»Er hat es mir erzählt. Das dumme alte Luder.«
»Was geschah damals in der Eisenhütte, ich will es wissen.« Ich musste herausfinden, ob Ellen Schuld hatte am Tod des Vaters oder dessen Gehilfen.
Rich sah mich aus schmalen Augen an.
»Ihr müsstet damals schon fast dreißig gewesen sein«, sagte ich. »Um einiges älter als West. Seinen Worten zufolge war sein Kumpan nur ein kleiner Beamter.«
»Das
war
ich doch auch. Bei all meinen Bestrebungen, all meinen Bemühungen, Thomas More als Gönner zu gewinnen, hatte ich mich lediglich zu einer niedrigen Position im Dienste des königlichen Schatzmeisters emporgearbeitet.« Er lächelte, ein merkwürdiges Lächeln. »Glaubt Ihr an die Vorsehung, Master Shardlake? Das Schicksal?«
»Nein.«
»Ich liebe das Glücksspiel. Die Welt ist nicht anders. Man wartet auf eine Glückssträhne, und wenn man sie hat, dann nutzt man seine Geschicklichkeit, um sie zu verlängern. Was mit jenem Brief geschah, leitete die Glückssträhne ein, die mich bis in den Geheimen Kronrat führte.«
»Woher wusstet Ihr, was er enthielt?«
»Ich wusste es nicht.« Er lachte. »Wenn ich es gewusst hätte, hätte ich die Finger davon gelassen. Ich dachte, es gehe lediglich um die alte Königin, die herauszufinden suchte, wie lange die Buhlschaft mit Anne Boleyn wohl noch gehe. Das lächerliche alte Weib, Ihr hättet sie sehen sollen. Wie sie einherwatschelte mit ihrem Rosenkranz, fett und unförmig von all den Totgeburten. Ich hatte alles darangesetzt, möglichst viele Bekanntschaften zu schließen bei Hofe, und mich mit einer ältlichen Zofe der Königin angefreundet, einer dieser herrlichen alten Klatschtanten, die stets über alle anderen im Bilde sind. Dieser Dame sagte ich, als ein treuer Anhänger der Königin stimme es mich traurig, dass die Boleyn sie in Schande bringe, und so weiter.« Er lächelte ob seiner Schläue. »Sie erzählte es prompt der Königin, woraufhin diese mir nahelegte, ich möge mit West
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