Der Pfeil der Rache
Rückzug. Die beiden Flotten halten noch immer Abstand. Sie werden schlecht geführt, ein Glück für uns. Doch bei günstigem Wind könnten sie nach wie vor angreifen. Ihr solltet Euch schleunigst davonmachen.«
Er gab mir noch einen Schluck Bier und blickte mich dann neugierig an. »Wir fragten uns, Sir, was Ihr an Bord zu schaffen hattet. Ihr seid kein Seemann und auch kein Soldat. Ihr hört Euch an wie ein Gentleman.«
»Ich wäre normalerweise auch nicht dort gewesen. Ich wollte von Bord gehen, doch dann lief das Schiff aus.«
»Wo genau wart Ihr auf der
Mary Rose
?«
»Auf dem Heckkastell. Auf der Laufbrücke oberhalb des Netzes. Ich konnte noch hinauskriechen.«
Edwin nickte. »Und Ihr wart im Hemd, deshalb seid Ihr nicht wie die meisten auf den Grund gezogen worden.«
Ich legte mich wieder hin. Die Erinnerung an die Ereignisse kehrte in Fetzen zurück: das Schiff, das plötzlich krängte, die Männer unter dem Netz, die nach mir griffen, als ich die Laufbrücke entlangkroch, mit Emma im Schlepptau. Ich sagte: »Jemand war mit mir im Wasser –«
Edwin rappelte sich mühsam auf. Er hatte sich unterhalb des Knies den Schenkel gebrochen, und der Knochen war schlecht zusammengewachsen, in einem eigenartigen Winkel. »Ja«, sagte er, »ein Junge wurde mit Euch gerettet. Ihr habt Euch beide an das Galionsemblem der
Mary Rose
geklammert. Ihr hattet Glück. Der Fährmann versuchte, die Rose ins Boot zu ziehen, aber sie ist gesunken –«
»Ein Junge?«
»Ja. Gutaussehender Bursche, Narben im Gesicht.« Er sah mich wieder an. »Euer Sohn?«
»Nein. Aber sie – er hat mich gerettet. Wo ist er jetzt?«
»Fort. Ich war einer von denen, die halfen, die Überlebenden von den Booten zu schaffen. Er hat bäuchlings unter Euch gelegen. Er schien besinnungslos zu sein, doch als das Boot den Anlegesteg rammte, schob er Euch beiseite, sprang wie ein Affe die Stufen hinauf und rannte die Oyster Street hinunter. Wir riefen ihm hinterher – er schien verletzt zu sein, hielt einen Arm fest gegen die Brust gedrückt. Aber er lief einfach weiter. Ihr kanntet ihn nicht?«
»Nein. Ich hätte nur gern gewusst, was mit ihm geschehen ist. Er zog mich auf die Spiere. Sagt mir doch, hat von den Offizieren jemand überlebt?«
»Nein. Die waren allesamt unter dem Netz gefangen.«
Ich erinnerte mich, wie West mit Carew und dem Schiffsmeister aneinandergeraten war. Also war auch er umgekommen, wie alle anderen. Vor meinem geistigen Auge blitzten die Schreckensbilder auf, wie Leacons Soldaten in die See gestürzt und auf der Stelle versunken waren.
* * *
Ich schlief mit Unterbrechungen. Der Mann, der gestöhnt hatte, war verstummt, vermutlich gestorben, da Edwin und seine Gesellen einen Leichnam hinausgetragen hatten, in ein Laken gewickelt. Schlimmer waren die Wachzeiten; immer und immer wieder traten mir die letzten Momente Leacons und seiner Männer vor Augen. Dann wieder sah ich sie vor mir, wie sie die Landstraße entlangtrotteten, hörte die Streitereien, die Späße und die kleinen Freundlichkeiten; entsann mich, wie Leacon an der Spitze neben Sir Franklin hergeritten, wie ihm das Getrommel zuwider gewesen war. Edwin und sein Kumpan gaben mir noch einmal zu trinken und versuchten später, mir ein paar Löffel Suppe einzuflößen, ich aber brachte keinen Bissen hinunter.
Als ich das nächste Mal erwachte, war es taghell. Ich fühlte mich ausgeruht, zumindest was den Leib anbelangte. Ich blickte auf den Mann auf den Säcken neben mir, einen jungen Matrosen. Er sagte etwas auf Spanisch. Ich war zu müde, um mich der wenigen spanischen Brocken zu entsinnen, die ich kannte, und schüttelte entschuldigend den Kopf. Ich mühte mich auf die Beine, schaffte aber nur drei schwankende Schritte, ehe mir schwindelig wurde und ich an einer Säule Halt suchen musste. Edwin humpelte auf mich zu. »Ihr seid noch schwach, Sir«, sagte er. »Ihr seid lange besinnungslos gewesen und solltet Euch wieder hinlegen. Versucht, etwas zu essen.«
»Ich kann nicht.« Ein entsetzlicher Gedanke fuhr mir in den Sinn. »Sind Beamte des Königs hier gewesen?«
Er lachte bitter. »Nein. Die königliche Gesellschaft hat South Sea Castle und die Zelte nicht verlassen.«
»Die Königin – ist sie auch dort?«
»Nein, sie ist in Portchester. Der einzige Besucher, den wir hatten, ist ein Mitglied des Stadtrats; dieser liegt im Streit mit Statthalter Paulet, wer für die Pflege der Verwundeten hier aufkommen soll, die Stadt oder die Armee.« Er sah
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