Der Pistoleiro: Die wahre Geschichte eines Auftragsmörders
gehen, um etwas zu essen. Mit knurrendem Magen schlief er ein.
Am nächsten Tag traute er sich noch immer nicht, sein Zimmer zu verlassen. Er kannte niemanden und sehnte den Onkel herbei. Irgendwann öffnete er die Tür, nur einen Spalt, und sah einen Mann, der gerade zum Ausgang der Pension ging. Er wollte es ihm schon nachmachen, fand dann aber doch nicht den Mut und legte sich wieder ins Bett. Was hätte er darum gegeben, wieder daheim zu sein, in der Ruhe der Amazonaswälder, an den Ufern des Rio Tocantins, in seiner Heimat. Er sinnierte immer noch, als er plötzlich Schläge an der Holztür vernahm. Eine schrille Stimme drang herein:
»Wach auf, Junge! Aufwachen!« Es war die Pensionswirtin.
»Ich bin ja schon wach«, antwortete Júlio nach einer kurzen Pause.
»Es ist schon Mittag. Du bist seit gestern nicht aus dem Zimmer gekommen. Der Offizier hat Geld für dich abgegeben.«
Er wurde hellwach. Mit dem Geld würde er endlich hinausgehen können, etwas essen und diesen entsetzlichen Hunger loswerden. Er machte die Tür auf und nahm ein Bündel mit hundertvierzig Cruzeiros entgegen, das von einem roten Nylonband zusammengehalten wurde. Sein Sold für sieben Arbeitstage. Der Junge hatte in seinem Leben noch nie so viel Geld gesehen, er hatte auch keine Ahnung, was man alles damit kaufen könnte. Er bedankte sich bei der Pensionsbesitzerin, die er jetzt viel netter fand als am Tag zuvor.
»Was meinen Sie, wieviel sollte ich für das Essen einstecken?«, fragte er.
»Du meinst, wieviel du brauchst, um zu essen? Für zehn Cruzeiros wirst du mehr Essen bekommen, als du schaffen kannst, Junge«, antwortete die Frau.
Júlio zog zehn Cruzeiros aus dem Bündel und steckte den Schein in die Hosentasche. Das übrige Geld rollte er in ein Stück Papier, das er auf dem Boden gefunden hatte, und schob den ganzen Packen in seine Unterhose. Um nichts in der Welt würde er sich davon trennen. Er zog sein Hemd an und ging nach draußen. Nachdem er eine Weile herumgelaufen war, sah er etwas, was er nie vergessen würde: ein riesiges, von der Form her an eine Libelle erinnerndes Monster aus Metall, das unglaublicherweise keine Flügel hatte. Wie kann dieses Ungetüm fliegen?, überlegte er. Flugzeuge kannte er, denn er hatte sie am Himmel über dem Regenwald ihre Bahnen ziehen sehen, aber das hier war sicher kein Flugzeug. Seine Blicke folgten dem Monster, bis es am Horizont verschwand. In einer Bar nahe der Pension aß er gebratenes Huhn mit Bohnen und klebrigem Reis. Dona Marinas Reis schmeckte viel besser. Dazu trank er zwei Flaschen Coca-Cola. Unaufhörlich dachte er an das seltsame Ding, das er über Xambioá hatte fliegen sehen.
Er bezahlte gerade sein Essen, das ihn vier Cruzeiros kostete und ihm günstig erschien, als ihn ein junger Mann in Armeeuniform ansprach: »Bist du der Neffe von Cícero?«
»Ja«, antwortete Júlio, glücklich darüber, dass ihn jemand erkannte.
»Offizier Marra erwartet dich auf der Polizeistation. Kommst du mit?«
Den verbleibenden Nachmittag verbrachte Júlio damit, Marra bei seinem Rundgang durch die Stadt zu begleiten. Die Soldatentrupps, die sich in Xambioá herumtrieben, so erfuhr er, gehörten drei verschiedenen Streitkräften an: Heer, Marine und Luftwaffe. Sie alle waren hier, um die Kommunisten zu bekämpfen. Er besichtigte die provisorisch errichteten Militärbasen. Das Fußballfeld war zu einer Landebahn umfunktioniert worden, wo eine große Hütte, die bis zu dreißig Männer aufnehmen konnte, als Ambulanz und einem Teil der Rekruten als Schlafsaal diente. Er lernte, den vertrackten Namen des Flugmonsters auszusprechen: Helikopter. »Irgendwann wirst du auch in einem solchen Ungetüm fliegen, Julão«, sagte Marra. Ein reizvoller Gedanke. Aber ob er sich tatsächlich trauen würde, in das Ding einzusteigen?
Die folgenden Tage verliefen ähnlich. Einen Großteil seiner Zeit verbrachte der Junge mit Spaziergängen durch die Stadt, meistens allein. An den lebhaften Verkehr der Militärjeeps und Lastwagen hatte er sich jedoch noch immer nicht gewöhnt. Täglich schaute er in der Polizeistation vorbei, um von Marra zu erfahren, ob schon feststand, wann sie wieder in die Wälder gehen würden. Eines frühen Abends befand er sich in der Nähe des Rollfelds und konnte zum ersten Mal beobachten, wie ein Helikopter landete. Er verstand nicht, wie das Ding ohne Flügel derart elegant in der Luft schweben konnte. Der Helikopter war etwa zehn Meter über dem Boden, seine Rotoren
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