Der Pistoleiro: Die wahre Geschichte eines Auftragsmörders
hätten sie, kurz bevor sie Lourivals Leben ein Ende gesetzt hatten, ihm die Fingernägel einzeln mit einer Zange herausgerissen. Und genau das würde allen geschehen, die mit den Guerilleros zusammenarbeiteten oder auch nur Informationen zurückhielten, die für die Ergreifung der Rebellen von Nutzen sein könnten. Marras offizielle Version von Lourivals Tod war eine andere: Der Bootsmann habe sich aus Angst vor der Haft selbst getötet: »Lurival sagte immer wieder, er wäre lieber tot als im Gefängnis«, behauptete Carlos Marra.
Die ganze Nacht über quälten Júlio die Gedanken an den toten Bootsmann. Wie konnten der Offizier, Forel und Emanuel so grausam sein? Die Männer, mit denen er tagelang durch den Busch streifte, mit denen er redete, aß und schlief, sie waren in der Lage, einen Menschen zu töten, und schlimmer noch, sie zeigten keinerlei Reue. Er selbst hatte vor neun Monaten einem Menschen das Leben genommen, und war sich sicher, dass diese Schuld ihn für immer verfolgen würde.
Vor dem Einschlafen bat er Gott, ihn aus dieser Hölle zu erlösen. Er war erschöpft von all der Gewalt. Er wollte zurück in die Ruhe seines Dorfes. Er wusste noch nicht, dass er in weniger als drei Wochen seinen zweiten Mord begehen würde.
Maria Lúcia Petit da Silva, eine junge Frau, zweiundzwanzig Jahre alt, einen Meter zweiundsechzig groß, fünfundvierzig Kilo schwer, mit schulterlangem glattem, braunem Haar, schmaler Nase und dunklen Augen mit leichtem Silberblick, arbeitete nach ihrer Ausbildung als Grundschullehrerin in São Paulo. Ende 1969 trat sie der verbotenen PCdoB bei. Ihren Freunden und der Familie sagte sie, ihr größter Traum sei, den Kindern im Hinterland von Brasilien zu helfen. Sie bot sich der Partei als Freiwillige an und wurde kurz darauf, im Januar 1970, ins Landesinnere von Goiás, in den Süden des Bundesstaates Pará, geschickt, um dort die Sozialarbeit der Guerilla zu unterstützen. Sie war glücklich, es war genau das, was sie wollte.
Meist brachte sie Kindern Lesen und Schreiben bei oder redete mit Jugendlichen und Erwachsenen über die Politik. Soziale Gerechtigkeit in Brasilien sei das Ziel, sagte sie immer. Es sei nicht hinzunehmen, dass wenige so viel besäßen und die meisten fast gar nichts. Sie war eine freundliche Lehrerin, stets gut gelaunt und beliebt bei den Kindern. So eroberte sie die Herzen der Dörfer des Araguaia. Nicht selten wurde sie gebeten, Taufpatin der Neugeborenen zu sein, das letzte Mal nur wenige Tage vor ihrem Tod. Ein Bauer, der João Coioió genannt wurde, bat sie, die Patin seines zwei Monate alten Sohnes zu werden. Sie hatte die Einladung angenommen, ohne zu ahnen, dass dieser Mann sie der Armee ausliefern würde.
Es war Anfang 1972. Die Militärs übten jeden erdenklichen Druck aus, um die Bewohner des Araguaia zur Zusammenarbeit bei der Jagd auf Kommunisten zu zwingen. Gewalt war das bevorzugte Mittel. Die Soldaten töteten Haustiere – Pferde, Rinder, Hühner –, prügelten nach Lust und Laune und zündeten sogar die Felder und Häuser der Bauern an. João Coioió, ein Mann von etwa vierzig Jahren, verheiratet und Vater dreier Kinder einschließlich des Neugeborenen, dessen Patin Maria Lúcia sein sollte, war vom Militär bedroht worden. Sie hatten sein Maniokfeld abgebrannt. Er fürchtete, seine Familie in Gefahr zu bringen, wenn er nicht kollaborierte, und beschloss deswegen, die Gruppe, in der Maria Lúcia arbeitete, zu verraten.
Aus Angst erkannt und festgenommen zu werden, vermieden es die Guerilleros, selbst in die Stadt zu gehen, und baten die Bewohner des Umlandes, Vorräte, Tabak und Munition für sie einzukaufen. Coioió hatte den Auftrag, in Xambioá Zigaretten, Bohnen, Reis, Kaffee und Munition für sie zu besorgen. In der Stadt angekommen, ging er direkt zur Polizei. Júlio konnte das Gespräch mithören, es dauerte keine zehn Minuten. Die für Marra entscheidende Information – wo sich das Lager der Revolutionäre befand – konnte Coioió ihm nicht geben. Doch als der Bauer behauptete zu wissen, wo die Guerilleros am Morgen des 16. Juni sein würden, horchte Marra auf.
»Ich bin in die Stadt gekommen, um Sachen zu kaufen, die sie brauchen. Sie wollen das Zeug bei mir abholen, am Freitag in der Früh«, sagte Coioió, der dem Offizier gegenübersaß und nervös mit den Füßen wippte.
»Und wer wird kommen?«, wollte der Offizier wissen.
»Cazuza, Mundico und Maria.«
Cazuza war der Tarnname von Miguel Pereira aus Pernambuco,
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