Der Pistoleiro: Die wahre Geschichte eines Auftragsmörders
Polizeistation saß, kam er sich wichtig vor, als wäre er selbst der Polizeioffizier dieser Stadt.
Er saß auf Marras Stuhl und hörte Lourival stöhnen. Er überlegte, ob er nachschauen sollte, doch dann hielt er es für besser, Marras Anweisungen zu befolgen, der gesagt hatte, er solle auf keinen Fall in die Zelle gehen.
Gegen Mitternacht erschienen der Offizier, Forel und zwei Soldaten. Sie waren betrunken. Sie redeten laut durcheinander, grinsten feist und stanken nach Schnaps.
»Wie geht es unserem Freund, Júlio?«, fragte Marra und schlug Júlio gegen die Brust.
»Er ist in seiner Zelle, Delegado. Er stöhnt immerzu«, antwortete der
Junge.
»Der Ärmste. Er leidet wohl sehr. Am besten, wir erlösen ihn«, sagte Marra und ging nach hinten, wo sich die Zelle befand.
Forel und die zwei Soldaten folgten ihm. Júlio wartete lieber an der Tür und hoffte, dass kein Unglück geschehen möge. Die Straße war menschenleer, außer dem ein oder anderen Betrunkenen aus Vietnam . Plötzlich hörte er Lourival schreien. Die Schreie waren so laut, dass ein Mann, der zufällig gerade vorüberging, erschrocken herüberschaute. Júlio wusste nicht, was er tun sollte. Einerseits wollte er wissen, was in der Zelle geschah. Gleichzeitig wusste er, dass ihm das, was er da zu sehen bekäme, nicht gefallen würde. Er wollte keine Folterungen mehr sehen. Wenn er dem Mann schon nicht helfen konnte, wollte er lieber weit weg sein.
»Delegado, darf ich in die Pension gehen und schlafen?«, rief er von der Tür der Polizeistation aus.
»Was ist los?«, rief Marra zurück.
Júlio ging bis zur Wand, die die Stube von der Zelle trennte, und fragte noch einmal mit lauter Stimme. Lourivals Schreie klangen aus der Nähe noch entsetzlicher.
»Ich bin müde. Sie wissen, dass ich immer sehr früh aufstehe. Darf ich in die Pension gehen und schlafen?«, fragte der Junge.
»Ist in Ordnung, aber ich will dich hier morgen pünktlich um acht Uhr sehen«, sagte der Offizier.
»In Ordnung. Dann gehe ich jetzt. Bis morgen früh.«
»Bis dann. Mach die Tür hinter dir zu und wirf den Schlüssel irgendwo in die Nähe des Tisches.«
In dieser Nacht bekam Júlio kein Auge zu. Er war unruhig, wälzte sich von einer Seite auf die andere. Setzte sich hin, stand auf. Seine Not war so groß, dass er mitten in der Nacht aus dem Zimmer ging und durch die Pension schlich. Er setzte sich auf eine Holzkiste irgendwo zwischen den Hühnern und Schweinen, die die Besitzerin hinterm Haus hielt. Lourivals Schreie gingen ihm nicht aus dem Kopf. Er machte sich Vorwürfe, nichts für den Bootsmann getan zu haben. Er wusste, dass seine Meinung Marra nicht im Geringsten interessierte, aber er hätte nicht so feige sein dürfen. Seine Kehle war trocken.
Im Flur drehte er den Wasserhahn auf und trank. Er lag im Bett, als das erste Licht durch die Ritzen der Holztür drang. Es muss gegen sechs Uhr gewesen sein, Sonntag, der 21. Mai.
Carlos Marra hatte gesagt, dass er erst um acht Uhr in der Polizeistation erscheinen solle. Doch so lange wollte er nicht warten. Er blieb noch eine Weile liegen, dreißig oder vierzig Minuten, dann stand er auf. Er zog seine Hose und ein Hemd an und wusch sich das Gesicht. An der Bäckerei, wo er sonst immer frühstückte, ging er rasch vorüber und fragte nur kurz nach der Uhrzeit: zehn nach sieben. Die Tür der Polizeistation war verschlossen. Er ging an die Hintertür, doch auch die war zu. Also klopfte er vorne zweimal laut.
»Wer ist da?«, fragte eine Männerstimme, vermutlich Forel.
»Ich bin es, Júlio.«
Forel öffnete die Tür einen Spalt, genug, dass er ihn sah und ihm fünf Cruzeiros zustecken konnte.
»Geh in die Bäckerei und kaufe Brötchen, Käse und Butter und auch eine Thermoskanne mit Kaffee. Sag, es ist für den Delegado«, sagte Forel.
»Darf ich für mich eine Cola kaufen?«, fragte Júlio.
»Kannst du machen.«
»Alles klar«, antwortet Júlio und eilte davon.
Zehn Minuten später war er zurück, warf die Tüte mit den Einkäufen auf den Schreibtisch des Offiziers und hastete zur Zelle. Das Bild, das sich ihm bot, war entsetzlich. Lourivals Körper hing einen halben Meter über dem Boden mit einer Schlinge um den Hals, deren anderes Ende an einem Deckenbalken befestigt war. Er trug nichts als eine Unterhose. Seine hervorquellenden Augen sahen aus wie rot angemalt. Seine rechte Gesichtshälfte war violett angeschwollen, am Bauch hatte er lange rote Striemen, von denen Júlio glaubte, dass sie von
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