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Der Planet des Todes

Der Planet des Todes

Titel: Der Planet des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stanislaw Lem
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von einer anderen Sache, die sich zugetragen hatte, als der Großvater kaum zwanzig Jahre alt gewesen war. Nachdem er zunächst keine Arbeit finden konnte, wurde er schließlich Aufseher in einer sogenannten chemischen Fabrik. Das war eigentlich eine alte Bruchbude, in der ein geschäftstüchtiger Unternehmer eine nach Vanille riechende Flüssigkeit fabrizierte, die er für schweres Geld als Tuberkuloseheilmittel verkaufte. Der Fabrikbesitzer zahlte unglaublich schlecht, und doch fehlte es ihm nie an Leuten. Er beschäftigte hauptsächlich verelendete, heruntergekommene Schwindsüchtige, die verzweifelt Rettung suchten und sich von der Hoffnung leiten ließen, sie könnten durch das teure „Heilmittel“, das ihnen dieser Scharlatan kostenlos lieferte, ihre Gesundheit wiedergewinnen. Ich brauche wohl nicht erst zu erwähnen, daß das Mittel wertlos war; aber das störte den Herrn Fabrikbesitzer keineswegs; denn an Stelle eines gestorbenen Arbeiters fand er bequem fünf neue.
    Meine Eltern, besonders aber der Vater, waren nicht besonders erbaut von Großvaters Erzählungen. Ich entsinne mich noch ganz genau, daß ich einmal meine Mutter mit allerlei Fragen quälte. Sie sollte mir erklären, was ein „Streikbrecher“ sei und ein „Minoliär“ – ein Ausdruck, den sie nicht kannte. Ich fragte deshalb den Vater, als er nach Hause kam.
    „Minoliär? Von wem hast du denn das gehört?“ wollte er wissen.
    „Von Großvater.“
    „Ach so! Das soll wohl Millionär heißen!“
    Der Vater war sehr ungehalten und sagte ärgerlich zur Mutter, daß sich Großvater besser überlegen solle, was er mir erzähle. „Ich lasse mir den Jungen nicht mit diesen düsteren Erinnerungen vergiften“, rief er und wollte zum Großvater hinaufgehen. Die Mutter verstand es jedoch – wie schon so manches andere Mal –, seine Erregung zu besänftigen. Solange der Großvater lebte, hatte ihn mein Vater immer in Verdacht, daß er es sei, der mich auf verrückte Ideen brachte.
    Einmal, zum Beispiel, beschloß ich, den Elbrus zu besteigen, und sparte mir eine Woche lang das Essen vom Munde ab, um Vorräte für den Weg zu sammeln. Ein anderes Mal kam ich auf den Flugplatz, um meinen Vater zu besuchen. Man beobachtete, daß ich einen großen, alten Regenschirm hinter mir herzog und erwischte mich gerade noch rechtzeitig, als ich mich in einem Flugzeug verstecken wollte. Aus dem improvisierten Fallschirmabsprung über unserem Hause wurde nichts. – Die Tatsache, daß auch der Großvater einmal sterben müsse, erfuhr ich ganz beiläufig aus einem Gespräch der Eltern. Ich glaubte es nicht und mußte sogar im stillen über sie lachen. Der Großvater und sterben! Wo er doch immer so stark, so riesengroß war. Und so rannte ich gleich zu ihm hinauf. Als er mich zur Begrüßung bis zur Decke emporwarf, bemerkte ich zum erstenmal, daß sich sein Gesicht schmerzhaft verzog. Das tat mir selbst so weh, daß ich zu weinen begann. Ich verriet ihm aber nicht warum, obwohl er mich lange danach fragte.
    Einige Zeit später wurde er krank und mußte liegen. Der Frühling kam. Im Garten entdeckte ich Tag für Tag neue Wunder, und Großvater konnte nur noch aus dem Fenster sehen, an das meine Eltern ihm einen großen Lehnstuhl geschoben hatten. Als ich eines Tages die Treppe zum Mansardenzimmer hinauflief, hörte ich einen mächtigen, heiseren Gesang, ein Lied, das so ganz anders war als die Lieder, die zu Hause und in der Schule gesungen wurden, einen unvergeßlich schwermütigen Gesang aus Leid und Unrecht und der tiefen Liebe zu einer Welt, die man nicht lieben darf. Obwohl ich die englische Sprache gut beherrsche, verstand ich keinen der wunderlichen Sätze. Nur im Kehrreim wiederholten sich Worte von einem großen, alten Fluß, auf dem die Schiffe schwimmen. Behutsam stieg ich die knarrenden Stufen empor. Das Lied klang immer kraftvoller … lange stand ich vor der Tür; dann ging ich mit bedrücktem Herzen hinunter. Drei Tage später starb mein Großvater. –
    In den darauffolgenden Jahren wurden meine tollen Streiche, die ich nun mit den Schulkameraden verübte, planvoller, aber um nichts weniger halsbrecherisch. Mein Vater behauptete oft, mein Charakter stamme aus der Hölle. „Und zwar aus der afrikanischen Hölle”, fügte die Mutter dann lachend hinzu, und damit war gewöhnlich der Fall erledigt; denn beide liebten einander sehr.
    Ich lernte ziemlich gut, aber ungleichmäßig. Man hatte mir erklärt, daß ich Mathematik und Astronomie

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