Der Poet der kleinen Dinge
ein Loser, der am Kanal rumhing, weil er nichts Besseres zu tun hatte. Vielleicht kam er einfach her, um auf andere Gedanken zu kommen.
Er ging langsam am anderen Ufer weiter, den Wagen vor sich herschiebend.
Der Zackenbarsch hat nicht gebellt, nicht »Hol’s Bällchen!« geschrien. Er hat den Jungen nicht mit Bierdosen beworfen, er hat ihm nur schweigend nachgeschaut. Dann hat er sein Notizheft, seinen Kuli aufgehoben und sich wieder an seine Buchführung gemacht, unter Angabe von Tag, Woche und Monat.
Das Gespenst und seine Ladung müssen bis zur Schleuse weitergegangen sein, um da umzudrehen, denn eine Viertelstunde später waren sie wieder da. Das Verdeck war zurückgeklappt, ich konnte den in seine Decke gewickelten Kaulquappentyp undeutlich erkennen.
Wie üblich hat der andere nicht mal zu uns rübergeschaut.
Man könnte meinen, wir stinken.
Der Zackenbarsch war endlich fertig mit seinen Berechnungen – sechshundertachtundsiebzig plus fünf ist gleich … Er hat die Gesamtsumme in neutralem Ton verkündet, aber ich spürte doch einen gewissen Stolz mitschwingen: »Sechshundertdreiundachtzig.«
Ich habe Beifall geklatscht und gesagt: »Ein kleiner Schritt für dich, ein großer für deinen Leberkrebs.«
»Scheiße, bist du negativ! Du hast keinen Sinn für Kunst.«
»Ach so, das ist Kunst?«
»Ich verstehe nicht mal, wie du diese Frage stellen kannst. Natürlich ist das Kunst, bist du bescheuert, oder was? Siehst du nicht, dass das ein Konzept ist?«
Er hat die Nase und seine Hose hochgezogen.
Ich hatte ihn gekränkt, das war blöd von mir, also habe ich gemeint: »Na gut, in dem Fall … Es ist nur nicht gerade gesund, verstehst du?«
Er hat losgelacht. »Wovor hast du Angst? Dass ich mich totschufte?«
Ich musste auch lachen.
Was soll man sonst tun?
Wir sind beide schweigend am Wasser sitzen geblieben, der Zackenbarsch mit seinem Konzept und ich mit meiner Depression. Dann haben wir uns schließlich losgerissen, weil wir gegen sechs mit ein paar Kumpels in der Stadt verabredet waren.
M anchmal frage ich mich, warum der Zackenbarsch so viel Zeit mit mir verbringt.
Und manchmal ist es umgekehrt.
Warum verplempere ich meine Tage mit einem Typen, dessen einzige Leidenschaft darin besteht, sich wegen eines Kanalkonzepts die Gesundheit zu ruinieren?
Andererseits muss ich zugeben, dass es mich nie am Denken gehindert hat, neben ihm zu sitzen. Er gibt im Schnitt drei Wörter pro Stunde von sich. Und in der übrigen Zeit schlürft er sein Bier, murmelt vor sich hin, wirft seine Bierdosen ins Wasser, unter genauer Berechnung des Schusswinkels, um kein Material zu verschwenden. Und wenn er bei Laune ist, lässt er mich daran teilhaben: »Hast du diese Zielgenauigkeit gesehen?«
»Hä, was?«
»Ich schaffe es jetzt, in ein Feld von der Größe eines Taschentuchs zu treffen. Ich schieße wie ein Weltmeister.«
Die Vorführung folgt sogleich. Zack! Der nächste Wurf, perfekter Winkel, die Dose fliegt in den Himmel, sinkt, fällt ins Wasser und verschwindet in den Fluten.
»Hast du das gesehen?«
»Was?«
»Was?! Siehst du nicht, wie millimetergenau das war? Wenn man unter Wasser gucken könnte, wette ich, dass sie haarscharf auf den letzten beiden gelandet ist, die ich vorhin geworfen habe. Ist doch Wahnsinn, diese Technik, oder?!«
»Wahnsinn. Du solltest eine olympische Disziplin begründen, weißt du? Bierdosenweitwurf in verdreckten Kanal.«
»Du nervst. Du kannst dich für nichts begeistern.«
Der Zackenbarsch sagt das ohne jede Gehässigkeit, aber es ist die exakte Feststellung meines Gemütszustandes: Ich kann mich für nichts begeistern, Punkt. Und das von einem Typen, dem alles »pomade« ist, wie mein Vater sagen würde – ich habe übrigens nie verstanden, was das genau bedeuten soll –, von einem, dem alles komplett am Arsch vorbeigeht. Da ist die Diagnose umso schwerer zu schlucken.
»Und du kennst dich in Sachen Begeisterung aus, oder was? Du bist da der Mega-Spezialist?«
»Tut mir leid, aber das ist was völlig anderes. Mir ist alles scheißegal, okay, aber ich habe immerhin Projekte im Leben. Hier der Beweis!«
Dem habe ich nichts entgegenzusetzen. Man kann sich auf den Standpunkt stellen, dass es ein Projekt ist, eine Leberzirrhose zu kriegen, bevor man fünfunddreißig wird, okay. Darüber werde ich mich nicht mit ihm streiten.
Gleichzeitig verstehe ich genau, was er mir sagen will. Ich bin schon lange im Leerlauf, nichts bringt mich in Gang, nichts reißt
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