Der Poet der kleinen Dinge
mich vom Hocker. Es gibt nichts, was mich morgens aus dem Bett zieht. Sogar das Aufwachen finde ich schwierig.
Oder vielmehr: enttäuschend.
Der Zackenbarsch, der hätte Erfinder oder Genie werden sollen statt Elektroinstallateur mit Schwerpunkt Haushaltsgeräte. Ich habe nie jemanden gesehen, der so geschickt ist wie er, er könnte jedes x-beliebige Gerät reparieren, auch ohne es gelernt zu haben. Er hat sein Hirn in den Fingern. Aber das interessiert ihn nicht.
Was er eigentlich werden wollte, war Bergsteiger. Aber mit seinem Asthma und seinem Übergewicht – mal ganz abgesehen davon, dass er sich nicht gern anstrengt – war das kein Ziel, das besonders gut auf ihn zugeschnitten war. Als er mir das erste Mal davon erzählt hat, nach dem dritten Bier in einer Kneipe in der Innenstadt, bin ich fast geplatzt vor Lachen. Ich habe mich gerade noch beherrscht, als ich kapiert habe, dass es kein Witz war. Als er angefangen hat, von Basislagern zu reden, von Achttausendern, von Aufstiegen ohne Sauerstoff, leuchtete in seinem Blick etwas unheimlich Starkes auf. Etwas, das mir sagte, dass es ihm mit dieser Sache wirklich ernst war. Und dass es auch wehtat.
Und mir wurde ganz unwohl dabei, zu sehen, wie seine Hundeaugen hin- und herschweiften zwischen seiner Traumwelt und seinem Bild im Spiegel an der Wand gegenüber: ein dicker Typ mit schlaffem Gesicht, fahlem Asthmatikerteint, roten Säuferaugen und einer von Monat zu Monat höher werdenden Stirn, die der Platte seines Vaters in absehbarer Zeit in nichts nachstehen würde.
Da habe ich mir gesagt, dass ich wahrscheinlich manchmal den gleichen Blick habe, sogar ziemlich oft, seit ich Lola verloren habe. Den Blick von jemandem, der seine Träume aufgegeben hat.
L ola, das war mein Mädchen, meine große Liebe. Wir waren fast vier Jahre zusammen, und ich sage es nur ungern, aber das waren die schönsten meines Lebens. Dabei sollten die besten Jahre die letzten zehn sein, damit man nichts mehr bedauern muss.
Lola – ich liebte es, mit ihr einzuschlafen, Haut an Haut mit ihr aufzuwachen, die Dusche rauschen zu hören, wenn sie morgens vor mir rausmusste, und sie in der Wohnung wiederzufinden, wenn ich abends nach ihr nach Hause kam.
Sie ist das einzige Mädchen auf der Welt, für das ich Gedichte geschrieben habe, am Anfang unserer Beziehung, ohne mir blöd vorzukommen.
Du bist so schön wie der Tag
Du hast alles, was ich mag
Leben ohne dich
Meine Lola
Das könnt’ ich nicht
Du bist so schön wie die Liebe
Wenn es doch immer so bliebe
Leben ohne dich
Meine Lola
Das könnt’ ich nicht
Wenn ich sie ihr zu lesen gab, machte sie sich jedes Mal über mich lustig: »Pfff! Wie alt bist du noch mal – zwölf?«
Aber ich wusste, es gefiel ihr, sie freute sich darüber.
Sie klebte sie in ein Heft, das ich ihr zum Geburtstag gekauft hatte, mit einem Einband aus rotem Leder und eingestanzten Blumen. Ein großes Heft mit dicken Seiten aus körnigem Papier. Sie klebte da auch alle Fotos von uns hinein, sogar die schlimmsten, zum Beispiel wir zwei im Fotoautomaten, ich mit meiner Psychopathenfresse. Sie im Stadtpark, ihre peruanische Mütze tief in die Stirn gezogen, die ihr Dackelohren machte. Und Kinokarten, die Rechnung des ersten Restaurants, in das ich sie an einem Zahltag eingeladen hatte und aus dem wir völlig blank und halbtot vor Lachen wieder rausgekommen waren. Ein Zöpfchen, geflochten aus ihren und meinen Haaren – damals hatte ich eine Frisur wie ein Pony: an den Seiten rasiert und in der Mitte eine lange Mähne. Es klebten sogar die Eintrittskarten für eine Ausstellung darin, in die wir rein zufällig hineingestolpert waren, weil es in Strömen goss und wir den Bus verpasst hatten. Das ganze Museum war mit Marmor gepflastert, Stuck an den Decken, weiße Wände, Holzdielen und alte Leute, die aussahen wie Zombies in Zeitlupe und fast mit der Nase an die Erklärungen unter den Bildern stießen, das Ganze in völliger Stille. In einem Saal, das weiß ich noch, waren Bronzeskulpturen von Frauen mit riesigen Brüsten und dicken Hintern. Ich fasste ihnen an den Po und betatschte ihre Titten, ich tat so, als würde ich mir einen runterholen, um die alten Omas zu schockieren, und wir fanden das witzig, wir waren wie Kinder. Wir dachten, wir hätten das ganze Leben vor uns. Eine Wohnung, ein großes Bett, um uns zu lieben, und irgendwann später mal einen Haufen Kinder.
Aber damit hatten wir es nicht eilig.
Nur nutzt sich Tag um Tag alles ab. Und
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