Der Poet der kleinen Dinge
Städte hinter sich lassen. Ich war nie länger als ein paar Wochen mit einem Typen zusammen. Oft bin ich allein. Aber das macht mir nichts aus.
Meistens jedenfalls. Ich habe keine Lust, zu jemandem zu gehören, zu warten oder brav zu sein.
Ich habe immer geglaubt, dass etwas in mir den richtigen Moment spüren wird, um damit aufzuhören. Es wird sicher eine Begegnung sein, jemand, der den Wunsch in mir weckt, sesshaft zu werden, ein Baby zu haben. Vielleicht kommt auch niemand, oder ich erkenne ihn einfach nicht. Vielleicht werde ich die Abzweigung verpassen, und es wird nie etwas geben wie Unsere kleine Farm , mit Feuer im Kamin, Marmeladenduft, dem Mann fürs Leben. Sondern nichts als vergängliche Liebschaften, Irrwege.
Im Moment ist das aber alles kein Thema.
Ich glaube, ich habe schon so ziemlich überall in Frankreich gearbeitet, und nicht nur da. Ich habe in England gelebt, in Irland, in Belgien, in Spanien und Italien, in Holland und in Deutschland.
Ich habe alle Jobs gemacht, die man in meinem Alter machen kann, wenn man keine Ausbildung hat, ungebunden ist und die Arbeitszeiten egal sind. Kellnern oder Tellerwaschen, auf Märkten verkaufen, Pizzen liefern, Babysitten, Haushalt, Empfang, Hunde spazieren führen, Wäscherei, Büros, Schulen und Krankenhäuser putzen, Flugblätter verteilen und jetzt die Fabrik.
Manchmal kommt es mir vor, als wäre mein Leben ein großes Gebäude, das aus unzähligen Räumen besteht. Ich besichtige sie nacheinander. Ich gehe vorwärts und kann niemals umkehren. Jedes Mal, wenn ich eine Tür aufmache, tauche ich in eine neue Szenerie ein.
Das nächste Mal geht’s in Richtung Süden, ich brauche Sonne. Ich werde die Hühnerfarm und ihren Gestank, Marlène und ihren Groll, Bertrand und seine Windeier hinter mir lassen. Roswell wird weiterleben wie bisher.
Es wird sich nicht viel ändern in seinem Leben, abgesehen von den Gutenachtküsschen und den Spazierfahrten. Er wird wahrscheinlich keine Gedichte mehr aufsagen, weil niemand sie hören will. Ich kann mir jedenfalls nicht vorstellen, dass Marlène sich zu ihm ans Bett setzt und sich Zeit nimmt, ihm zuzuhören, seine Reime zu übersetzen, sie mit ihm zusammen zu sprechen.
Wer kann sagen, ob es ihm fehlen wird? Wer kann wissen, inwieweit Roswell die Dinge wirklich versteht? Vielleicht hat sein Bruder letztlich recht, und Roswell ist nur ein Papagei, der die Wörter wiederholt, ohne die Sätze zu verstehen.
Ich wäre mir da gern sicher.
Ich bin überzeugt, dass Marlène und Bertrand in ihrer ganzen Dummheit nie entschlossen genug sein werden, um ihn wirklich auszusetzen, nicht einmal für eine Woche. Das ist eine hirnrissige Idee. Marlène muss einfach hin und wieder ein bisschen träumen, sich vorstellen, dass sie tun und lassen könnte, was sie will. Auch wenn ihre Träume verdammt schäbig sind und auf Roswells Kosten gehen.
Man klammert sich eben an das, was man hat.
Bei ihr ist es das Unglück der anderen.
Aber wenn sie eines Tages anfinge, tatsächlich daran zu glauben? Wenn sie am Ende wirklich denken würde, es wäre möglich, dass sie und Bertrand, wenn sie den Döskopp am Straßenrand vergessen, einen wunderbaren Traum wahr machen könnten, in die Berge reisen und die Eiergondelbahn nehmen?
Ich weiß, dass Bertrand seinem Bruder nichts zuleide tun könnte, auch wenn er schwachsinnig und eine Last ist. Aber Bertrand ist ein Feigling. Und das Problem mit Feiglingen ist, dass man nie weiß, vor wem sie am Ende einknicken. Ihm kommt es nur darauf an, keinen Ärger zu haben. Nichts, was in seiner Pfütze, in seinem Wasserglas Wellen machen könnte.
Vor wem wird er letztendlich mehr Angst haben? Vor der Polizei oder vor seiner Frau?
I ch bedaure es wirklich, dass Roswell mir über den Weg gelaufen ist. Ich konnte sehr gut ohne seinen Hundeblick und sein Gesabber leben.
Er erinnert mich an Gold, meinen Labrador. Stunden habe ich damit zugebracht, ihm Spritzen zu geben, seine Verbände zu erneuern, ihm gut zuzureden, nachdem er unter die Räder eines Lieferwagens geraten war. Für die Notoperation beim Tierarzt war mein ganzes Sparschwein draufgegangen, aber das war mir egal.
»Du musst loslassen!«, sagte meine Mutter immer wieder. »Er wird sterben, das siehst du doch.«
Es waren Stunden, in denen ich auf seinen Atem neben mir gelauscht habe, seine Zunge spürte, die schüchtern an meinem Arm leckte, seine knochige Pfote auf meinem Bein, seine harten Krallen auf meiner Haut, seine trockene,
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