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Der Poet der kleinen Dinge

Der Poet der kleinen Dinge

Titel: Der Poet der kleinen Dinge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marie-Sabine Roger
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fieberheiße Schnauze an meiner Schulter. Er und ich lagen aneinandergeschmiegt da wie zwei Welpen, Bruder und Schwester aus dem gleichen Wurf.
    Er schaute mich aus dem Augenwinkel an, während ich ihm seine Spritzen gab. Kein Seufzer, kein Wegzucken, ich sah, wie er erschauerte, wie er sich versteifte, ich wusste, dass es in ihm brannte, ihn zerriss, dass in seinem Inneren alles Matsch war.
    Jeden Abend sagte ich mir, wenn ich am nächsten Morgen aufwachen würde, wäre er tot. Ich versuchte, nicht zu schlafen, neben ihm zu wachen, um seine letzte Stunde hinauszuzögern.
    Der Tierarzt war nicht gerade optimistisch gewesen: »Die Chancen, dass er überlebt, stehen eins zu fünf, und auch das nur, weil er jung und gesund ist. Sonst hätte ich dir gleich geraten aufzugeben. Aber wenn es bis Ende nächster Woche keine Fortschritte gibt, bring ihn wieder her, dann schläfere ich ihn besser ein.«
    Konnte er sich überhaupt vorstellen, wie weh es tat, auch nur eine Sekunde lang sein Ende ins Auge zu fassen?
    Mit Goldy bin ich aufgewachsen, wir hatten uns als Welpen kennengelernt.
    Meine Brüder waren traurig. Doch ich war verzweifelt. Aus Angst um ihn habe ich viel mehr geweint als beim Tod meines Vaters.
    Er hat sich schließlich erholt, aber nicht ganz. Er hinkte, sein Hinterteil blieb lahm, ich habe ihn nie wieder mit fliegenden Ohren und heraushängender Zunge auf mich zurennen sehen. Er ist bejammernswert und anfällig geworden. Ich habe ihn deswegen umso mehr geliebt.
    Und ich habe damals beschlossen, mich nie wieder an jemanden zu binden, weil es zu weh tut, sich um diejenigen zu sorgen, die man liebt.
    Ich war achtzehn.
    Deshalb verstehe ich Marlène sehr gut, wenn sie sagt, dass Hunde einem den größten Kummer bereiten können.
    Roswell hat die gleiche Wirkung auf mich, deswegen muss ich gehen. Es ist eine unnötige Bindung.
    Und ich hasse es, angekettet zu sein.

 
    W enn man Roswell irgendwo aussetzen würde, wäre er nicht in der Lage zu sagen, wo er herkommt. Wahrscheinlich weiß er nicht mal, wie die Stadt hier heißt.
    Ich stelle mir vor, wie er an einer Bushaltestelle auf einer Bank sitzt oder einfach am Straßenrand und dem davonfahrenden Auto von Marlène und Bertrand hinterherschaut.
    Roswell, wenn es dunkel wird.
    Roswell ohne seinen Fernseher. Ohne sein Bett. Ohne seine Nuckeldecke. Ohne die kleine Nachttischlampe. Wie er vielleicht seine Gedichte vor sich hin brabbelt. Oder mutterseelenallein falsch singt.
    Verflucht.
    Er müsste wenigstens eine Chance haben, wenn diese angekündigte Sauerei wirklich passieren sollte.
    Deshalb bringe ich ihm seinen gesamten Personenstand inklusive Adresse bei. Und ich lasse ihn seine Lektion jeden Abend wiederholen.
    Seinen Namen kennt er natürlich. Seit ich da bin, habe ich festgestellt, dass er alles Mögliche weiß, viel mehr, als ich gedacht hätte.
    Ich werde nie herausfinden, wie weit Roswells Weisheit wirklich reicht. Ich werde nie bis zu seinen tatsächlichen Grenzen vordringen: Bald bin ich wieder weg, meine Zeit wird nicht reichen. Was ich aber weiß, ist, dass es ganz schön viel Übung braucht, um seine exotische Sprache zu entschlüsseln.
    Das normale Roswellsch ist wie codiertes Chinesisch.
    Also wiederholen wir das Ganze jeden Abend vor dem Schlafengehen. Er bemüht sich, mit eisernem Willen.
    Aber es ist total bescheuert. Roswell ist nicht Gold. Er ist ein Mensch. Ein Erwachsener. Sein Vorname ist Gérard. Er ist älter als ich. Er hat eine Vergangenheit, die in seinem Kopf eingeschlossen ist. Vielleicht auch tiefsinnige Ideen, überwältigende Gefühle, eigene Gedanken über das Leben.
    Und da komme ich daher und bringe ihm bei, Sachen aufzusagen, als wäre er vier Jahre alt, und korrigiere seine Aussprache. Ich spiele Logopädin.
    An manchen Abenden erinnert er mich an ein abstraktes Gemälde, in seinem Bett sitzend, den krummen Rücken mit Kissen abgestützt, mit dem dünnen Hühnerhals, der aus dem Schlafanzug ragt, und dem spitzen Adamsapfel, der jedes Mal hoch- und runterrutscht, wenn er es schafft, seine Spucke zu schlucken, statt sie auf den Kragen tropfen zu lassen. Roswell ist wie ein dreidimensionaler Picasso.
    Er lässt mich keine Sekunde aus den Augen, und in diesen Momenten kommen mir Zweifel.
    Geht das von ihm aus oder von mir? Es kommt mir vor, als würde ich eine undeutliche Besorgnis in ihm spüren. Vielleicht ist es nur die Angst, mich zu enttäuschen und kein guter Schüler zu sein. Vielleicht ahnt er auch, dass ich weggehen

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