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Der Poet der kleinen Dinge

Der Poet der kleinen Dinge

Titel: Der Poet der kleinen Dinge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marie-Sabine Roger
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und hat dazu gejammert: »Warte doch auf mich, Mickaël, he, waaarte!«
    Er ging weiter, ohne sich umzudrehen, um deutlich zu zeigen, wer der Herr im Haus ist. Sie lief hinter ihm her wie ein Hündchen. Ich habe mich gefragt, was wohl passiert wäre, wenn sie nicht aufgestanden wäre, nachdem er »zwei« gesagt hatte. Wenn sie Widerstand geleistet hätte.
    Aber da bestand keine Gefahr: Tyrannen haben einen Riecher dafür, die richtigen Sklaven zu finden.
    Wie viele Menschen abonnieren aus Versehen das Unglück und kündigen dann nie mehr?

 
    E in paar Tage später bin ich abends in der Stadt geblieben.
    Ich habe bei Ilhan gleich neben dem Bahnhof einen Döner gegessen.
    Eine kleine Musikgruppe hat da gespielt, ein Trio, zwei an der Oud, einer an der Saz. Drei gutaussehende junge Männer mit dunklen Blicken, die in ihr Spiel versunken waren. Einen von ihnen hätte ich gern für den Rest des Abends mitgenommen.
    Früher konnte ich mir orientalische Musik nicht länger als fünf Minuten anhören, ich fand den Klang jämmerlich, wehleidig. Ich habe sie erst in Deutschland lieben gelernt. Da arbeitete ich mit Türken in einer Wäscherei, ich wohnte auch mit ihnen zusammen, und nachts machten sie in unserer Bude Konzerte.
    Manchmal zwingt einen das Leben, Dinge dazuzulernen, und das ist gut so.
    Bevor ich mich auf den Heimweg gemacht habe, bin ich noch auf ein Bier in den Pub neben dem Bahnhof gegangen.
    Es war ruhig, abgesehen von zwei leicht besoffenen Typen in einer Ecke, von der friedlichen Sorte. Und dann war da auch wieder dieses ältere Paar, das hinter dem Aquarium tuschelte. Die beiden habe ich schon ein paar Mal gesehen.
    Die Kellnerin hat mir erzählt, dass sie in einer Laientheatergruppe spielen, die in sozialen Einrichtungen auftritt. Sie kommen oft her, um ihre Rollen einzustudieren. Sie sind witzig, vor allem sie. Einmal habe ich gehört, wie die beiden eine Liebesszene probten, sie bekam ständig Lachanfälle.
    An diesem Abend waren sie mit einer weniger komischen Szene beschäftigt, einem Streit, und sie hatten offensichtlich Probleme damit. Der Alte motzte, wie immer. Er versuchte auf alle mögliche Arten zu sagen: Ich werde dich verlassen, verstehst du, versuch nicht, mich zurückzuhalten.
    »Tut mir leid, ich krieg das nicht hin! Ausdruckslos und unbeteiligt soll ich das sagen. Ich werde dich verlassen, verstehst du, versuch nicht, mich zurückzuhalten. Ach, Scheiße!«
    Sie sagte, klar, es wäre nicht immer einfach mit diesen zeitgenössischen Stücken, aber auf der Bühne würde es super werden, ganz sicher. Sie versuchte, auf ihr Stichwort zu antworten: »Ich dachte es mir schon, ich wusste es, ich glaube, ich habe es immer gewusst. Halblaut und zurückhaltend . Hmm … Stimmt schon, das ist nicht ohne. Spielen wir die Stelle ein paarmal hintereinander durch, ich habe sie auch noch nicht so richtig im Gefühl.«
    »Okay. Ich werde dich verlassen … Ich werde dich verlassen, versuch nicht … ach! Mist … Ich werde dich verlassen, verstehst du, versuch nicht, mich zurückzuhalten …«
    Ich hatte mich an die Bar gesetzt, halb abgewandt, um sie nicht zu stören, mir aber auch nichts entgehen zu lassen. Ich war noch nie im Theater, außer einmal mit der Schule. Es beeindruckt mich, zu sehen, wie Leute einfach in eine andere Haut schlüpfen, als würden sie einen Pulli überziehen. Wie sie so tun, als würden sie ein anderes Leben leben, vor unseren Augen, und es schaffen, uns zu überzeugen, dass die eine Tür in der Kulisse zur Straße rausgeht und die andere in den Garten. Ich finde das viel stärker als im Kino, weil es keine Spezialeffekte gibt, keinen Zoom und keine Supertotale, keine Begleitmusik. Nur zwei, drei Schauspieler auf Brettern vor einem gemalten Hintergrund. Männer und Frauen, drei Meter vor uns, die Worte sprechen, die kein Mensch sagt. Seltene oder alte Worte, die sich oft reimen, aber manchmal ungereimt klingen. Und die einem trotzdem Tränen in die Augen treiben.
    Im Theater ist es wie im echten Leben, da gibt es keinen Probelauf, man kann nicht sagen: »Klappe, die Szene noch mal!« Wenn der Vorhang aufgeht, ist es ernst. Schummeln gilt nicht.
    So weit war ich mit meinen Überlegungen, als ich mich umdrehte, um mein Bier zu trinken, und im Spiegel hinter dem Tresen einen Typen sah. Er hatte sich auf einen Hocker direkt neben mir gesetzt. Er hat mir zugelächelt und hallo gesagt.
    Ich habe mich zu ihm umgedreht. Ich habe ihn nicht gleich erkannt, wahrscheinlich weil ich

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